„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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war und im Zeichen eines politisch-moralischen Aufbruchs der Schriftsteller stand (vgl. Kap.<br />
2.1.3). <strong>Meienberg</strong> verwendete zur Beschreibung seiner professionellen Funktion auch die Metapher<br />
des Mikrophons. Wie das folgende Zitat zeigt, kann dieser Vergleich aber leicht falsch<br />
verstanden werden. „Der Intellektuelle hat bei dieser Schreibung [der Oral History, P.M] nicht<br />
mehr die Funktion des allmächtigen, einsamen Interpreten und Schreibtisch-Strategen, sondern<br />
er spürt nur die Leute auf, die sich genau erinnern, und überlässt ihnen das Wort. Er ist<br />
eine Art Mikrophon, funktioniert vor allem als Zuhörer, wie der Psychoanalytiker. Durch geduldiges<br />
Zuhören bringt er die widerborstige Wahrheit an den Tag.“ 358 Gemeint war hier<br />
vermutlich dasjenige Mikrophon, das via Kabel mit dem Aufnahmegerät des Historikers verbunden<br />
war und die mündlichen Quellenaussagen aufzeichnen sollte. 359 Dennoch ist in diesem<br />
Bild auch eine andere Lesart angelegt: Dass der Intellektuelle „jenen Leuten das Wort<br />
gibt, die es sonst nicht haben“, 360 dass er die Wahrheiten, die er so erschlossen hat, verlauten<br />
lässt und öffentlich macht. Irreführend ist diese Metapher meiner Ansicht nach deshalb, weil<br />
sie die Bedeutung des Intellektuellen bei der Produktion dieser Wahrheiten kaschiert. <strong>Meienberg</strong>s<br />
Vision einer „Geschichte des Volkes, vom Volk selbst verfasst, das ohne Hemmungen<br />
frisch von der Leber weg erzählt“, 361 das heisst von einem Volk, das – via „Mikrophon“ –<br />
selber schreibt und sich damit selber aufklärt, ist eine Utopie mit beträchtlichem Selbsttäuschungspotenzial,<br />
die bei radikalen Vertretern der deutschen Dokumentarliteratur anzutreffen<br />
ist. 362 Denn es muss festgehalten werden, dass der Historiker, den <strong>Meienberg</strong> hier vor Augen<br />
hat, seine mündlichen Quellen nicht „aufspürt“ oder „entdeckt“, sondern mit den Interviewten<br />
zusammen produziert. Und diese „Geschichte von unten“, die ihm vorschwebte, kann keineswegs<br />
ein Produkt des Volkes selbst sein – er ist es, der den Diskurs kontrolliert, seine Gesprächspartner<br />
auswählt und der ‚Geschichte‘ ihre finale Gestalt verleiht. Gerade bei <strong>Meienberg</strong>s<br />
Art von Geschichtsschreibung, die sich durch eine anspruchsvolle künstlerische Form,<br />
das heisst durch eine individuelle kreative Leistung auszeichnet, ist dies offensichtlich. Die<br />
Metapher vom Mikrophon taugt damit wenig zur Beschreibung seiner intellektuellen Arbeit.<br />
363 Wenn aber dieses ‚positivistische‘ Bild ganz offensichtlich schief ist, so ist es doch<br />
sehr gezielt gewählt, indem es den Anschein zu erwecken vermag, die ‚Fakten‘ bzw. die<br />
„Wahrheit des Volkes“ sprächen für sich alleine. <strong>Meienberg</strong> wusste im Allgemeinen nämlich<br />
sehr genau um den konstruktiven Charakter seiner Arbeit als Historiker (vgl. Kap. 3.3.1).<br />
Abschliessend soll in diesem Kapitel über das intellektuelle Selbstverständnis <strong>Meienberg</strong>s<br />
noch die Frage erörtert werden, welches die (unbewussten) ideologischen Prämissen waren,<br />
die hinter seinem Engagement für die „Lohnabhängigen“ sowie seinem persönlichen Geschichtsbild<br />
standen. In einem Interview bezeichnet er sich 1988 als „marxistischen Linken“,<br />
wobei er aber die Theorien von Marx nicht als Dogmen, sondern als Arbeitsinstrumente be-<br />
358<br />
„Quellen“, in: VW, 147.<br />
359<br />
Die Gefahr eines in diesem Bild angelegten positivistischen Faktenverständnisses hat <strong>Meienberg</strong> selbst<br />
erkannt und klargemacht, dass selbstredend auch der Intellektuelle als ‚Mikrophon‘ eine Tendenz habe.<br />
360<br />
„Unter uns gesagt“. Meine Hervorhebung. Auch diese Wendung, „das Wort geben“ erweist sich wieder<br />
als doppeldeutig: Einerseits kann sie bedeuten, dass er die „Büezer“ einfach erzählen lassen will, andererseits<br />
meint sie auch, dass er ihren Erfahrungen erst Worte gibt, sie interpretiert und in einen gesellschaftlichen Zusammenhang<br />
stellt.<br />
361<br />
„Quellen“, in: VW, 147.<br />
362<br />
Anzutreffen z.B. in Hübner 1976.<br />
363<br />
Die Problematik der Oral History wird in Kap. 3.2.2. näher ausgeführt.<br />
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