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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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zu müssen und sich vom Begriff „Landesverräter“ und dessen semantischen Umfeld persönlich<br />

angegriffen fühlten. Mit ebenso grosser Sicherheit dürfte der vehemente Abwehrreflex<br />

aber symptomatisch sein für die Haltung eines Grossteils der Schweizer Bevölkerung und<br />

damit ein eindrücklicher Beleg für die moralische Identifikations- und Orientierungskraft eines<br />

jahrzehntelang beinahe unhinterfragten Geschichtsbildes. Denn das eine schliesst das andere<br />

nicht aus. Der Psychoanalytiker Mario Erdheim hat auf die enge Interdependenz zwischen<br />

individueller Biografie und kollektivem Geschichtsbild aufmerksam gemacht: Geschichtsbilder<br />

sind mit der Biografie der Individuen und ihrer Familienangehörigen eng verwoben;<br />

sie zu kritisieren stellt eine Operation dar, die in tiefe Schichten des Subjekts eingreift.<br />

67 Angriffe auf ein bisheriges und die Durchsetzung eines neuen Geschichtsbildes erweisen<br />

sich demnach als schmerzhafte, verletzende Prozesse, die nicht nur das Selbstverständnis<br />

einer Gesellschaft, sondern auch die bisherige Interpretation individueller Biografien<br />

in Frage stellen. Es ist kein Zufall, dass es nicht nur der Schweiz bisher nie gelungen ist, ihr<br />

Geschichtsbild aufgrund einer autonomen Entscheidung zu verändern. Dazu sind meist exogene<br />

Kräfte notwendig.<br />

In den obigen Ausführungen wurden die Begriffe ‚Geschichtspolitik‘ und ‚Geschichtsbild‘<br />

verwendet. Es ist für den weiteren Gang der Untersuchung notwendig, dazu noch einige theoretische<br />

Ausführungen anzufügen. Besprochen werden soll ausserdem der Begriff des ‚Geschichtsbewusstseins‘.<br />

Festzuhalten ist zunächst, dass Vergangenheit nicht nur eine Angelegenheit<br />

für Historiker ist, sondern immer auch ein zentrales Objekt politischer Kämpfe darstellt.<br />

In neueren geschichtswissenschaftlichen Forschungen wird von einer eigentlichen Dichotomie<br />

zwischen kollektivem ‚Gedächtnis‘ und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung<br />

ausgegangen. 68 Während der Modus der historischen Sinnbildung im Falle des kollektiven<br />

‚Gedächtnisses‘ als affektiv-magische Operation bezeichnet werden kann, ist er in der professionellen<br />

Historiografie ein methodisch-rationales Verfahren. 69 Dies erklärt, weshalb gewisse<br />

Vorstellungen von Vergangenheit über lange Strecken hinweg immun sein können gegen Resultate<br />

historiografischer Forschung: Der wissenschaftliche Wahrheitsgehalt einer historischen<br />

Aussage ist nur ein Faktor von deren öffentlicher Wirkung, viel wichtiger sind dagegen<br />

Fragen der Transportier- und Durchsetzbarkeit sowie der politischen Opportunität. Die politische<br />

Auseinandersetzung um Vergangenheit ist ein permanenter Prozess: „In pluralistischen<br />

Gesellschaften wird ständig Geschichtspolitik betrieben, denn politische Eliten – als gewichtiger<br />

Teil der Deutungseliten – gestalten und definieren das für einen politischen Verband<br />

konstitutive Ensemble von grundlegenden Vorstellungen, Normen, Werten und Symbolen.“ 70<br />

Geschichtspolitik ist daher, erstens, ein Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene po-<br />

67 Erdheim, Mario: „Schwierigkeiten mit der Geschichte“, Neue Zürcher Zeitung, 6./7. 9.1997.<br />

68 Tanner, Jakob: „Die Krise der Gedächtnisorte und die Havarie der Erinnerungspolitik. Zur Diskussion um<br />

das kollektive Gedächtnis und die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges“, in: traverse 1999/1,<br />

16-37.<br />

69 Bei allen Differenzen verweist Tanner aber auf eine fundamentale Gemeinsamkeit. Geschichte lässt sich<br />

ebensowenig wie Gedächtnis von Standpunkten, Erkenntnisinteressen und Werturteilen trennen. Damit kann<br />

es auch keinen ‚neutralen‘ Metastandpunkt geben, von welchem aus sich das Zusammenspiel von Geschichte<br />

und Gedächtnis ‚objektiv‘ beobachten liesse.<br />

70 Wolfrum, Edgar 1999: „Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989. Phasen und<br />

Kontroversen“, in: Petra Bock; ders. (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und<br />

Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen, 55-81, hier S. 58.<br />

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