„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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3.3.3.2. Das Empathie-Konzept<br />
Aus der gerechtfertigten Kritik an einem epistemologisch naiven Objektivitätsmodell in Journalismus<br />
und Geschichtsschreibung (vgl. Kap. 3.3.1.) zog <strong>Meienberg</strong> den Schluss, dass Subjektivität<br />
nicht nur unumgänglich, sondern auch legitim sei. Dabei muss jedoch zwischen der<br />
unumgänglichen Subjektivität, die jeder Faktenerkenntnis inhärent ist, und einer weitergehenden<br />
Subjektivität, wie er sie forderte, unterschieden werden. Die „aufrührerische, unter-die-<br />
Haut-gehende, lustvolle“ 520 Symbiose von Gefühl und Intellekt ist ein Konzept, mit welchem<br />
die spezifische, von manchen Kritikern als störend empfundene Subjektivität in <strong>Meienberg</strong>s<br />
historischen Arbeiten bezeichnet werden kann. Ich nenne diese Verbindung von Rationalität<br />
und Emotionalität, die <strong>Meienberg</strong>s Verständnis von Subjektivität determiniert, das Empathie-<br />
Konzept. Unterscheiden lassen sich dabei zwei verschiedene, jedoch eng miteinander verbundene<br />
funktionale Ebenen: <strong>Meienberg</strong>s Empathie-Konzept ist erstens eine hermeneutische<br />
Technik der Aneignung vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeit; und es ist zweitens eine<br />
rhetorische Wirkungsstrategie zur emotionalen und intellektuellen Mobilisierung der Textrezipienten.<br />
In Kap. 3.3.1. wurde bereits angedeutet, dass <strong>Meienberg</strong> davon überzeugt war, mit der Verbindung<br />
von Intellekt und Emotion Gegenwart und Vergangenheit besser verstehen zu können.<br />
Diese Einsicht manifestiert sich beispielsweise in der Kritik an Hallers Artikel über die<br />
Stadt Zürich, „Glitzerfassaden steinharter Bürgerlichkeit“, der 1984 im „Spiegel“ erschien:<br />
„Da wurde über das Leid der Fixer geschrieben, aber der Autor, so schien mir, hat nicht gelitten,<br />
seine Sprache referiert ganz unbeteiligt. Natürlich kann man auch durch sprachliche Unterkühlung<br />
eine Teilnahme zeigen, aber unterkühlt war die Sprache auch nicht, sondern einfach<br />
normal und genormt. Da wurde die horrende Selbstgerechtigkeit und Kaltschnäuzigkeit<br />
der Reichen geschildert, aber der Autor, so kam es mir vor, war nicht erschrocken. Emotionslos<br />
hat er Infos gesammelt, [...].“ 521 <strong>Meienberg</strong> lehnte also ‚neutrale‘, „emotionslose“ Faktenkompilation<br />
ab; er forderte Einfühlung und emotionales Engagement, immer in Verbindung<br />
mit dem konkreten Erlebnis, das sich mit der empirischen Recherche vor Ort einstellt. Reporter<br />
und Historiker sollen sich als denkende und fühlende Individuen auf ihre Protagonisten<br />
einlassen. Sie sollen versuchen, sich einzufühlen. In Bavaud schreibt <strong>Meienberg</strong>: „Wir können<br />
ihm die Enttäuschung nachfühlen.“ (B, 69). Auf diese Weise kann <strong>Meienberg</strong> zufolge die<br />
Erkenntnis der Wirklichkeit erweitert werden. Er beruft sich dabei auf die „alte Reportage-<br />
Kultur“, die er mit den Namen Sinclair, Steffens, Wolfe, Capote, Kisch, Weerth, Dronke,<br />
Londres und Lacouture verbindet. Diese Kultur hat „[...] den Mut gehabt, die Gefühle darzustellen,<br />
welche beim Recherchieren und Anschauen der Zustände entstehen, d.h. mit der<br />
Sprach-Gestalt die Zustände abzubilden, ohne rührselig zu werden oder explizit von Gefühlen<br />
zu salbadern.“ 522 Die Gefühle des Autors, so <strong>Meienberg</strong>, sollen also nicht direkt, sondern nur<br />
indirekt zur Geltung kommen: „Die Emotionen sind für den Journalisten nicht deshalb wünschenswert,<br />
weil wir in ihnen schwelgen können, sondern weil sie die Möglichkeiten des Verstehens<br />
erweitern. Vielleicht wäre es möglich gewesen, mit einer anderen als der vorgestanzten<br />
Norm-Sprache das Thema anzugehen. Er hätte ruhig etwas erleben dürfen, auch im Kopf,<br />
520 „Paar Thesen“.<br />
521 „Eine Lanze“, in: WSp, 200. Meine Hervorhebung.<br />
522 „Paar Thesen“.<br />
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