„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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‚Vorstellungswelt‘ bestätigt. Wille empfiehlt dort in einem Brief an Gonzague de Reynold tatsächlich,<br />
allfällige Unmutsäusserungen bei den Westschweizer Truppen in der gleichen Weise<br />
zu behandeln, wie es sich seiner Meinung nach für Kinder – und Frauen! – gehört: „Die Hosen<br />
stramm ziehen und ein paar Tüchtige hinten drauf, [...].“ (W, 42) Steht der Verbindlichkeitscharakter<br />
von <strong>Meienberg</strong>s fokalisierter Darstellung zunächst also durchaus noch zur Debatte,<br />
so wird sie durch das nachfolgende Zitat ex posteriori legitimiert. Und so verfährt er im<br />
ganzen Text. Oft ist der Abstand zwischen Prätext und <strong>Meienberg</strong>s Ausdrucks- oder Codezitat<br />
aber weit grösser als in diesem Beispiel, und erfolgt die Legitimierung auch in umgekehrter<br />
Richtung.<br />
Die dritte Funktion des fluktuierenden Zitates besteht darin, dass sie <strong>Meienberg</strong>s Darstellung<br />
eine ausserordentlich starke intratextuelle Kohärenz verleiht. Da nämlich diese Technik oft<br />
angewandt wird, womit der ganze Text zu einem dichten Gewebe von Zitat und Eigentext<br />
wird, erlaubt sie es dem Erzähler, den Prätext zitierend zu variieren (vgl. das Codezitat „linkes<br />
Pack“, das aus dem Originalausdruck „Redaktorenpack“ abgeleitet wurde) und den Eigentext<br />
partiell zu fokalisieren, ohne dass dadurch ein Glaubwürdigkeitsverlust einträte. Aufgrund der<br />
vorherigen Lektürerfahrung, wurde oben gesagt, könne ausgeschlossen werden, dass das unmarkierte<br />
Urteil über die „Welschen“ in <strong>Meienberg</strong>s Text von <strong>Meienberg</strong> stamme – man<br />
könnte dies auch anders ausdrücken: Es ist aufgrund der starken innertextuellen Kohärenz<br />
eindeutig als Wille-Code erkennbar.<br />
4.1.2. Abduktion<br />
Um die erkenntnistheoretisch unproduktive Fakten-Fiktions-Opposition zu überwinden und<br />
die von <strong>Meienberg</strong> im Laufe der 80er Jahre entwickelten Begriffe der „Vermutung“ und der<br />
„logischen Fantasie“ systematisch zu untersuchen, wurde im Kap. 3.3.3.3. das Konzept der<br />
Abduktion eingeführt. Darunter verstehe ich jene spezifische Art des Ratens oder Mutmassens<br />
bei der historiografischen Rekonstruktion eines Ereigniszusammenhanges, die auf einer breiten<br />
Faktenbasis beruht und dazu eingesetzt wird, ‚Lücken‘ in einer vorhandenen Dokumentation<br />
zu schliessen. Die zentrale Leistung der Abduktion besteht darin, dass sie anschaulichere,<br />
dichtere Erzählungen und bessere Erklärungen ermöglicht. Als kreativer Akt des Schliessens<br />
verfügt sie über den für die Geschichtsschreibung konstitutiven Wirklichkeitsbezug und<br />
Wahrheitsanspruch und ist deshalb grundsätzlich falsifizierbar.<br />
Die Bedeutung der Abduktion als heuristische und narrative Technik hat innerhalb der drei<br />
historischen Arbeiten <strong>Meienberg</strong>s stetig zugenommen. In Ernst S. gibt es nur drei abduktive<br />
Stellen (E, 52, 55, 83), die für das Textganze keine Relevanz besitzen und mit grosser Wahrscheinlichkeit<br />
ohne Bedacht entstanden sind. Wie in Kap. 3.3.3.3. nachgewiesen wurde, besass<br />
<strong>Meienberg</strong> zu diesem Zeitpunkt nämlich noch keine Vorstellung davon, ob und wie in jenem<br />
spannenden Territorium zwischen den beiden Polen der Fakten und der Fiktion zu operieren<br />
wäre und lehnte rundweg alles ab, was nicht reine, „harsche Wirklichkeit“ war. Mit Bavaud<br />
verabschiedete er sich von dieser pauschalen Ablehnung jeglicher ‚Fiktion‘. An verschiedenen<br />
Äusserungen aus den frühen 80er Jahren ist ersichtlich, dass er die Technik der<br />
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