„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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l’histoire“ mit der Formel „carence des signes de l’énonçant“ getan hat. 459 Hinter der Schein-<br />
Objektivität, so <strong>Meienberg</strong>, verbirgt sich immer ein unsichtbarer „Marionettenspieler“, der<br />
dem Leser als Faktum vorgaukelt, was in Wirklichkeit bloss seine eigene Interpretation ist. 460<br />
Damit kritisierte <strong>Meienberg</strong> auch die traditionelle auktoriale Erzählhaltung, welche in der<br />
Historiografie dominiert und eine direkte Verbindung zwischen den Quellen und der Darstellung<br />
suggeriert: „Zwischen der simplen Richtigkeit der Nachricht, die er [der NM-Journalist,<br />
P.M] verschmäht, und der höheren Wahrheit der Erzählung, die ihm verschlossen bleibt, muss<br />
er sich durchmogeln. Er muss die Fakten interpretieren, modeln, arrangieren: aber eben dies<br />
darf er nicht zugeben. Er darf seine epische Farbe nicht bekennen. Das ist eine verzweifelte<br />
Position.“ 461 Barthes hat diese vorgetäuschte direkte Verbindung zwischen den Quellen und<br />
der his-torischen Erzählung analysiert und als „effet de réel“, als „Realitätseffekt“ bezeichnet.<br />
462 Eine dezidierte Objektivitätskritik ist auch für <strong>Meienberg</strong>s Vorbild Jean Lacouture<br />
zentraler Ausgangspunkt des professionellen Selbstverständnisses: „Le point de vue ... Ce<br />
n’est pas, pour le journaliste, une formule ou une facilité de langage. C’est l’une des données<br />
fondamentales de son métier. Le ‚d’où tu parles‘ si galvaudé en mai 1968, c’est pour nous<br />
l’angle de tir du combattant, le cap du marinier. [...] Mais le journaliste écrit ici, et non là, ce<br />
jour-ci et non celui-là. Composantes essentielles de son témoignage.“ 463 Mit dem Verweis<br />
darauf, dass die Frage nach dem „Ort des Sprechens“ im Pariser Mai 1968 eine besondere<br />
Bedeutung hatte, kann Lacoutures Aussage zugleich als Hinweis dafür betrachtet, woher <strong>Meienberg</strong>s<br />
Sensibilität für epistemologische Probleme wichtige Impulse bekommen haben könnte.<br />
Aus der gültigen Einsicht, dass Wirklichkeit nie ‚objektiv‘ erkennbar ist und ‚Wahrheit‘ deshalb<br />
das Resultat eines Konstruktionvorganges darstellt, zog <strong>Meienberg</strong> den Schluss, dass ein<br />
„intellektuell redlicher“ Journalist oder Historiker seine „Methode der Wirklichkeitsaneignung“<br />
464 offenlegen müsse. Nur so sah er die Möglichkeit, Texte, die Aussagen über die<br />
Wirklichkeit machen, kritisch lesen zu können. Diese Forderung entspricht genau dem Programm<br />
der italienischen Mikrogeschichte, welches historische Darstellungen mit polierten,<br />
‘glatten Oberflächen‘, die ‚objektives‘ Wissen zu vermitteln behaupten, in analoger Weise ablehnt.<br />
Genau wie bei <strong>Meienberg</strong> geht es den Mikrohistorikern um den Bruch mit dem traditionellen<br />
Modell auktorialen Erzählens in der Geschichte. „The second characteristic is that of<br />
incorporating into the body of the narrative the procedures of research itself, the documentary<br />
limitations, techniques of persuasion and interpretative constructions. This method clearly<br />
breaks with the traditional assertive, authoritarian form of discourse adopted by historians<br />
who present reality as objective. In microhistory, in contrast, the researchers point of view becomes<br />
an intrinsic part of the account. The research process is explicitly described and the limitations<br />
of documentary evidence, the formulation of hypotheses and the lines of thought<br />
followed are no longer hidden away from the eyes of the uninitiated.“ 465 Ganz ähnlich äussert<br />
459 Barthes, Roland 1967: „Le discours de l’histoire“, in: Informations sur les sciences sociales 6/4, 65-75,<br />
hier S. 69.<br />
460 „Eine Lanze“, in: WSp, 196.<br />
461 Ebda, 199.<br />
462 Barthes 1967: 74.<br />
463 Lacouture 1989: 195.<br />
464 „Eine Lanze“, in: WSp, 201.<br />
465 Levi 1992: 106.<br />
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