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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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produce a reasonable hypothesis, it is right to begin by immersing oneself in the study of the<br />

facts until the mind is soaked through and through with the spirit of their interrelations;<br />

[...].“ 568 Das ist der „harte Boden“, von dem aus die Abduktion starten kann. Was nachher<br />

kommt – „[...] is after all, nothing but guessing“, 569 ist nichts anderes als gezieltes Raten. Gezieltes<br />

und nicht zufälliges Raten deshalb, weil es Peirce zufolge instinktgeleitet erfolgt und<br />

einem Prinzip der Ökonomie gehorcht, welches unplausible Erklärungen von vornherein eliminiert.<br />

570 Das Ergebnis dieses abduktiven Ratens oder Vermutens, die Hypothese, weist<br />

dann den selben Unsicherheitsgrad auf wie die logische Fantasie bei <strong>Meienberg</strong> und Kisch,<br />

indem es grundsätzlich falsifizierbar ist.<br />

Der Begriff der Abduktion von Peirce steht im Kontext einer intensiv geführten Methodendiskussion<br />

im 19. Jahrhundert. Die beiden traditionellen logischen Schlussarten, Induktion<br />

und Deduktion, wurden in dieser Zeit vielfach als ungenügend empfunden und es war das Ziel<br />

von Peirce, eine neue, unabhängige Schlussart zu entwickeln. Er arbeitete dabei mit verschiedenen<br />

theoretischen Ansätzen, unter anderem der Wahrscheinlichkeitstheorie und der experimentellen<br />

Psychologie. Die Theorie der Abduktion entstand in mehreren Phasen seines Werkes.<br />

571 In den frühen Schriften verwendet er den Begriff der Hypothese, später auch den Terminus<br />

„Retroduktion“, in wenigen Fällen den Begriff der „presumption“, also der Vermutung.<br />

572 Den Begriff der Abduktion gebrauchte Peirce nach dem gegenwärtigen Stand der Edition<br />

seiner Schriften erstmals 1893, ab 1901 dann in systematischer Weise mit seiner Pragmatismus-Theorie.<br />

573 Der Vorteil gegenüber der Bezeichnung „Hypothese“ besteht darin, dass<br />

mit dem Begriff der Abduktion der Schlussprozess (eben die Abduktion) und das Ergebnis<br />

des Schlussprozesses (die Hypothese) unterschieden werden können, was bei der „Hypothese“<br />

nicht möglich ist; sie vereint beide Elemente gemeinsam. 574 Das Konzept der Abduktion bei<br />

Peirce wird von der Forschung als heterogen charakterisiert, jedoch nicht so, dass unüberbrückbare<br />

Widersprüche zu verzeichnen wären. Der Status als logische Schlussart und die erklärende<br />

Leistung als zentrale Funktion bleiben stets im Mittelpunkt. 575 Lange Zeit nur wenig<br />

beachtet, ist das Interesse an Peirce’ Abduktion in der Nachkriegszeit stets gestiegen und wird<br />

heute in den verschiedensten Fachgebieten rezipiert, so etwa in der Philosophie, Wissenschaftstheorie,<br />

Soziologie oder Linguistik. In der Literaturwissenschaft hat Umberto Eco das<br />

Konzept der Abduktion in zahlreichen Arbeiten als Modell für die Textrezeption adaptiert,<br />

wobei der Leser, ähnlich einem Detektiv, bei der Lektüre eines Textes Sinnhypothesen aufstellt,<br />

um zu einer plausiblen Interpretation zu gelangen. 576 In ähnlicher Weise wurde die Abduktion<br />

auch als Modell für die wissenschaftliche Interpretation von Theater-Aufführungen<br />

568 So Peirce in einem späten, unklar datierten Text mit dem Titel „Appraisal of the Faculty of Reasoning“,<br />

zit. nach Richter 1995: 161. Meine Hervorhebung.<br />

569 Peirce, Charles Sanders: „Science and Philosophy“, in: CP 7, hg. von Arthur W. Burks, Cambridge<br />

(Mass.) 1966, 219: „[...] and abduction is, after all, nothing but guessing<br />

570 Wirth 1995: 407.<br />

571 Richter 1995: 10.<br />

572 Ebda, 9.<br />

573 Ebda, 102; 119.<br />

574 Ebda, 105.<br />

575 Ebda, 173-174.<br />

576 Wirth 1995: 415.<br />

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