„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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lens von „Gegengeschichten“. 6 In Wille und Wahn fragt <strong>Meienberg</strong> programmatisch: „Und<br />
wem gehören die Erinnerungen?“ 7 Diese Frage führt <strong>zum</strong> Kern seines intellektuellen Selbstverständnisses,<br />
das hinter diesen Texten steht. Sie stehen im Zeichen eines Kampfes um das<br />
historische Gedächtnis und die damit verbundene Selbstbeschreibung und -vergewisserung<br />
der Schweiz. Doch <strong>Meienberg</strong> erinnerte nicht nur an eine andere Schweiz, er schuf sich auch<br />
andere Formen der Erinnerung – eine vollständig neue Erzählweise, die Historiografie, Reportage,<br />
Literatur, Essay, Pamphlet und Autobiografie vereinte. <strong>Meienberg</strong>s historische Prosa in<br />
die etablierten Gattungen der Geschichtsschreibung, Journalistik und Literatur aufzubrechen<br />
hiesse, ihre zentrale Leistung zu verkennen, die gerade in der Transgression generischer<br />
Grenzen und in der Synthese des scheinbar Unvereinbaren besteht. Nicht, dass die Existenz<br />
von Genres geleugnet werden sollte – gerade die Überschreitung von Grenzen setzt diese<br />
zwingend voraus. 8 Aber das System der Gattungen ist in ständiger Transformation begriffen,<br />
und <strong>Meienberg</strong> hat sich in diesem Sinn sein eigenes Genre geschaffen, für das zur Zeit noch<br />
keine prägnante Bezeichnung zur Verfügung steht. Eine Konsequenz aus dieser Einsicht besteht<br />
darin, dass in dieser Arbeit nicht versucht werden soll, nach dem alten, autonomieästhetischen<br />
Paradigma das ‚bleibende‘ Literarische vom ‚vergänglichen‘ Politischen zu trennen,<br />
wie es bei politisch engagierten Autoren häufig geschieht. Gerade bei <strong>Meienberg</strong> ist das Ästhetische<br />
nämlich besonders eng mit dem Politischen verknüpft. Seine politische Durchschlagskraft<br />
beruhte wesentlich auf der Macht und dem Witz seiner Sprache, und für die<br />
Macht und den Witz seiner Sprache benötigte er klar definierte politische Gegner. Literatur<br />
entstand bei ihm nicht, weil er Literatur machen wollte. Sie entstand unterwegs, auf dem Weg<br />
zu seinen gesellschaftspolitischen Wirkungsabsichten. Das schmälert ihre Qualität nicht. Es<br />
ist im Gegenteil sehr bemerkenswert, welche Vielfalt der historiografischen Methoden und<br />
der literarischen Techniken er sozusagen en passant entwickelt hat. Soviel zur allgemeinen<br />
Problemstellung.<br />
Die spezifische Fragestellung dieser Arbeit umfasst drei Bereiche:<br />
1) In einem ersten Zugriff soll der grössere gesellschaftspolitische und literarische Kontext<br />
der drei Werke skizziert werden: Welches sind die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen<br />
in der Schweiz, in welche <strong>Meienberg</strong>s Texte in den 70er und 80er Jahren fallen?<br />
Wo ist der Ort <strong>Meienberg</strong>s in der zähflüssigen Kontroverse um die helvetischen Geschichtsbilder<br />
der Nachkriegszeit, in welcher ein echter Durchbruch erst 1996, also drei<br />
Jahre nach seinem Tod erzielt wurde? Die Erörterung des literarischen Kontextes erfolgt<br />
in zwei verschiedene Richtungen. Einerseits: Welchen Strömungen innerhalb der deutschsprachigen<br />
Schweizer Literatur der Nachkriegszeit rechnet die aktuelle Literaturgeschichte<br />
<strong>Meienberg</strong>s Werk zu? Andererseits sollen mit der Dokumentarliteratur und dem ‚New<br />
Journalism‘ zwei literarische Konzepte aus den 60er Jahren vorgestellt werden, die wichtige<br />
Aspekte von <strong>Meienberg</strong>s Prosa vorprägen.<br />
6<br />
Der Begriff der „Gegengeschichte“ wird vom Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen zur Charakterisierung des<br />
Modus‘ der kritischen historischen Sinnbildung verwendet. (Rüsen, Jörn 1994: „Historische Orientierung.<br />
Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden“, Köln etc., 18). Näheres dazu<br />
in Kap. 3.1.<br />
7<br />
Die Welt als Wille und Wahn, 92. Dieser Text wird inskünftig mit der Sigle W bzw. mit der Abkürzung Wille<br />
und Wahn gekennzeichnet.<br />
8<br />
Siehe hierzu: Todorov, Tzvetan 1978: „Les genres du discours“, Paris, 45-46. Französische Titel werden<br />
nach Möglichkeit mit Ortsangabe vermerkt. Wo eine solche fehlt, wird nach französischer Sitte der Verlag<br />
angegeben.<br />
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