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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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dem kräftig propagierten Mythos der ‚widerstandsentschlossenen Schicksalsgemeinschaft‘<br />

basierte, war das Réduit national, das zu einem gleichsam „transzendentalen Bezugspunkt für<br />

kollektive Sinnstiftung“ 84 avancierte. Entscheidend ist, dass erst der Kalte Krieg der retrospektiven<br />

kollektiven Erinnerung die definitiven Züge verlieh: In einem selektiven geschichtspolitischen<br />

Zugriff wurden die konflikthaften Elemente dieser Erinnerung – etwa die<br />

Flüchtlingspolitik oder die Landesverräter-Problematik – weitgehend eliminiert, um die politische<br />

Frontstellung von innen nach aussen drehen zu können. 85 Statt einem „Ausbruch aus<br />

der geistigen und kulturellen Réduitstellung“, 86 wie dies nach dem Krieg gefordert wurde,<br />

kam es zu einer Reaktivierung der nationalen Integrationsideologie, der sogenannten „geistigen<br />

Landesverteidigung“, die um zahlreiche – auch sozialpolitisch – progressive Bedeutungsfacetten<br />

reduziert wurde und nun im Wesentlichen noch mit Antikommunismus, dem Insistieren<br />

auf militärischer Aufrüstung sowie dem Appell zu repressiver Wachsamkeit gegenüber<br />

dem inneren Feind, der sogenannten „fünften Kolonne Moskaus“, gleichzusetzen war. 87<br />

1948 wurden die Bewilligungspflicht für politische Reden eingeführt und die staatliche<br />

Überwachung oppositioneller Kreise intensiviert – unterstützt übrigens auch von der schweizerischen<br />

Sozialdemokratie, die, nach einer Phase verwirrten Schweigens, 1949 auf das neue<br />

Feindbild im Osten einschwenkte. Der Antikommunismus, 88 in gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen<br />

Kreisen bald ebenso verbreitet wie in bürgerlichen, wurde zur „spirituellen<br />

Hauptwaffe nationaler Selbstbehauptung“ 89 und erlebte seinen Höhepunkt anlässlich der blutigen<br />

Niederschlagung des Ungarnaufstandes im November 1956. „Man möchte bei der Lektüre<br />

der Presse und zuweilen beim Anhören des Radios eher vermuten, wir stünden schweissbedeckt<br />

irgendwo vorn an der Front. [...]. Man könnte manchmal glauben, wir wären die ersten,<br />

die sich auf die künftigen Schlachtfelder stürzen werden“, konstatierte ein besorgter Jean<br />

Rudolf von Salis in seiner Rede „Die Schweiz im kalten Krieg“, die er 1961 im Lenzburger<br />

Stapfer-Haus vor geschlossenem Publikum hielt. Von Salis brandmarkte in seiner mutigen<br />

Rede den ‚antitotalitären Totalitarismus‘ Schweizer Prägung mit – für seine Person – ungewohnter<br />

Deutlichkeit. Hätte er die Rede mit seinem überraschenden nonkonformistischen Gedankengut<br />

1961 veröffentlicht, hätte er mit grosser Sicherheit um Ruf und Stellung bangen<br />

müssen, so Birrer. 90 Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung sieben Jahre später hatte sich der<br />

innenpolitische Brennpunkt verschoben, man hatte sich an die Koexistenz der Ideologien im<br />

84 Tanner 1999: 29.<br />

85 König 1998b: 74.<br />

86 So der wörtliche Auftrag von Bundesrat Philipp Etter an den Präsidenten der 1938 gegründeten Kulturstiftung<br />

Pro Helvetia, Jean Rudolf von Salis, bei Kriegsende. (Birrer, Sybille: „Jean Rudolf von Salis. ‘Helvetien<br />

gebe ich nicht verloren...‘“, in: dies. et al. 2000, 35-88, hier S. 60-61.) Die Pro Helvetia war 1938 als eigentlicher<br />

„Hort der geistigen Landesverteidigung“ gegründet worden. Bei Kriegsausbruch war mit der Einrichtung<br />

der Sektion „Haus und Heer“ jedoch ein „Aufklärungsdienst“ entstanden, der die Aufgabe der „geistigen<br />

Abwehr“ übernahm. 1945 wurde „Haus und Heer“ demobilisiert. Die Idee eines Aufklärungsdienstes<br />

wurde aber innert weniger Jahre reanimiert, diesmal auf ziviler Basis. Der deutschschweizerische „Schweizerische<br />

Aufklärungsdienst“ widmete sich dann, im Gegensatz zu seinem welschen Pendant, ausschliesslich der<br />

Abwehr des Kommunismus.<br />

87 Tanner 1999: 29; König 1999: 159.<br />

88 Dem Antikommunismus kann in der Zeit des Kalten Krieges sowohl eine integrative, den binnenpolitischen<br />

Basiskonsens fördernde und gesellschaftliche Veränderungswünsche abblockende Funktion zugewiesen<br />

werden als auch eine ausgrenzende: Er war gleichzeitig eine äusserst wirksame innenpolitische Ausgrenzungsstrategie.<br />

89 Tanner 1999: 30.<br />

90 Birrer 2000: 70-72.<br />

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