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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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den ausgewählt, ‚vorpräpariert‘ oder aus dem Weg geschafft, während im Westen die Behörden<br />

keinerlei Einfluss auf den Verlauf der Forschung suchten. Dies ist eine unentbehrliche Information<br />

für jene kritische Rezeption, die <strong>Meienberg</strong> für seine eigenen Texte vorsah.<br />

Die Ebene der Recherche/Reportage spielt eine bedeutende Rolle für die Gesamtheit des Bavaud-Textes,<br />

ist sie doch in mehr als der Hälfte der insgesamt 34 unterscheidbaren Erzählsequenzen<br />

634 vertreten. Daneben sind fünf weitere Erzählebenen erkennbar. Zunächst einmal die<br />

Handlungsebene, d.h. die Biografie von Maurice Bavaud. <strong>Meienberg</strong> setzt dabei mit den Attentatsvorbereitungen<br />

Bavauds in Berchtesgaden ein, und führt die Geschichte mit einer komplexen,<br />

immer ein wenig vorwärts und rückwärts springenden chronologischen Folge auf den<br />

ersten fünfzig Seiten zur Klimax, dem gescheiterten Attentat am nationalsozialistischen Erinnerungsmarsch<br />

in München. Anschliessend blendet er stufenweise von der Internatszeit in<br />

Frankreich über Lehre und Kindheit in Neuchâtel zurück und springt dann erneut nach vorne,<br />

erzählt die Verhaftung durch die deutsche Bahnpolizei ein zweites Mal und führt die Geschichte<br />

über Prozess und Hinrichtung bis über seine Tod hinaus zu den Wiedergutmachungsprozessen<br />

in den 50er Jahren.<br />

Dann gibt es die Ebene des historiografischen Positionsbezugs und des Kommentars. Hier hat<br />

<strong>Meienberg</strong> sein methodisches Selbstverständnis ausführlich dargelegt. Besonders interessant<br />

sind dabei seine Bemerkungen über die Analogie zwischen Film und Geschichtsschreibung. 635<br />

<strong>Meienberg</strong> begreift die filmische Recherche als prototypische Realisierung seiner Vorstellung<br />

des empirisch-induktiven, auch ‚sinnlichen‘ Vorgehens: „Wer filmt, nähert sich der Geschichte<br />

anders als wer schreibt. Es geht nicht ohne Augenschein. Man muss die Örtlichkeiten abschreiten,<br />

Augen brauchen, Ohren, [...]. Man kann sich nicht damit begnügen, ein Buch über<br />

Plötzensee, wo Maurice Bavaud gefangen war, zu exzerpieren, man sollte die Zelle sehen und<br />

ausleuchten (ein Stück Vergangenheit ausleuchten). Dabei lässt es sich nicht vermeiden, dass<br />

auch der heutige Zustand der Strafanstalt ins Bild kommt. Man kann nicht so tun, als ob die<br />

Geschichte 1941 eingefroren wäre [...].“ (B, 9). <strong>Meienberg</strong> liefert hier sozusagen die Theorie<br />

für seine narrative Praxis des Einbezugs der Recherche-/Reportageebene. Der Text erhält damit<br />

eine ausserordentliche methodische Stringenz. Bavaud lässt sich als theoretischer und<br />

praktischer Beitrag zur Oral History-Diskussion lesen. 636 Weil ausserdem die Grundprobleme<br />

der ganzen Geschichtswissenschaft nirgends so deutlich zutage treten wie bei der Methodendiskussion<br />

rund um die Oral History (vgl. Kap. 3.2.5.), stellt dieser scheinbar so unauffällige<br />

634 Auch hier spreche ich wieder von Erzählsequenzen als gewissermassen kleinster narrativer Einheit, da die<br />

einzelnen Kapitel nur in fünf von elf Fällen mit einer einzigen Erzählsequenz kongruent sind. In allen anderen<br />

Fällen bestehen die Kapitel aus zwei bis sieben verschiedenen Erzählsequenzen. An<strong>zum</strong>erken ist ferner,<br />

dass die Unterscheidung einzelner Erzählsequenzen in Bavaud deutlich schwieriger ist als in Ernst S. und je<br />

nach Kriterien verschieden ausfallen wird. Ausschlaggebendes Kriterium für meine Untersuchung war die<br />

Erzählebene. Es kommt vor, dass <strong>Meienberg</strong> in einer einzigen Erzählsequenz fünf der sechs Erzählebenen<br />

benutzt, die ich unterschieden habe.<br />

635 Festzuhalten ist hier, dass <strong>Meienberg</strong> ausschliesslich den Dokumentarfilm meint, wenn er vom Film<br />

spricht. Denn im Spielfilm, so die amerikanische Historikerin Davis, hat jenes „vielleicht“ oder jenes „vermutlich“,<br />

das für die Geschichtsschreibung so wichtig ist, keinen Platz. Der Spielfilm braucht eine eindeutige<br />

Handlung bzw. eine eindeutige Lesart der Vergangenheit und lässt keinen Raum für Spekulationen offen.<br />

(Davis 1989: 11.)<br />

636 Der Akzent liegt dabei auf der praktischen, darstellerischen Seite. Oral History, so <strong>Meienberg</strong>s Fazit, kann<br />

dazu beitragen, unplausible ‚Schreibtischthesen‘ zu entkräften. „Aber niemand von seinen Mitschülern und<br />

Geschwistern und Bekannten hat Maurice so in Erinnerung.“ (B, 83.) Mit dem „so“ ist Urners Bavaud-These<br />

gemeint.<br />

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