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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Sinn verfasst. 241 Sein Essay kann aber als Ausdruck ihrer temporär breiten Akzeptanz im Literaturbetrieb<br />

gelesen werden. In zahlreichen literaturgeschichtlichen Darstellungen 242 wird Enzensberger<br />

relativ eindimensional als „Opfer“ eines grossen Missverständnisses dargestellt,<br />

dem ständig das Verkünden des „Endes der Literatur“ in die Schuhe geschoben werde, obschon<br />

er bloss einen „notwendigen Funktionswechsel der Belletristik“ konstatiert habe. Diese<br />

Lesart scheint mir jedoch allzu sehr mit Enzensbergers eigener Rechtfertigung Ende der 70er<br />

Jahre zu harmonieren, zu einem Zeitpunkt, als es nicht mehr opportun war, als Urheber politischer<br />

Literaturkonzepte dazustehen. Es ist nicht zu bestreiten, dass Enzensberger den realen<br />

„Tod der Literatur“ nicht explizit formuliert, sondern auf den metaphorischen Charakter dieser<br />

Wendung aufmerksam gemacht hat. Trotzdem scheint mir der Text Ausdruck einer bemerkenswerten<br />

Verunsicherung zu sein – und insgesamt weit ambivalenter, als er gemeinhin<br />

beschrieben wird.<br />

Als kleine Nachbemerkung zu Enzensberger bleibt noch zu erwähnen, dass er stets sehr quick<br />

im Erfassen des ‚Zeitgeistes‘ war. 1962 vertrat er in seinem Essay Poesie und Politik die Ansicht,<br />

dass das Politische dem Literarischen selbst innewohne, d.h. in der Sprache des Werks,<br />

und nicht im baren Inhalt festgemacht werden dürfe – eine für die westdeutsche Nachkriegszeit<br />

repräsentative literaturpolitische Funktionsbestimmung. Dieser Position der politischen<br />

Literatur qua Sprache erteilte er 1968 mit seinen Gemeinplätzen und der Propagierung pragmatisch-operativer<br />

Formen eine radikale Absage. 1971 revidierte er auch diese Haltung wieder.<br />

Im Band Gedichte 1955-1970 wurde die alte Grenzziehung zwischen Literatur und Politik<br />

mit der Erklärung reaktiviert, dass das politische Engagement der Literatur ebenso sinnlos<br />

sei wie ihre politisch motivierte Toterklärung. Damit war dann der Bankrott des politischen<br />

Literaturmodells signalisiert. 243<br />

Viele der Argumentationsmuster aus Enzenbergers Gemeinplätzen – so wird sich in Kap. 3.1.<br />

zeigen – werden bei der Analyse von <strong>Meienberg</strong>s intellektuellem Selbstverständnis wieder<br />

auftauchen.<br />

241 Dennoch basiert sein Roman „Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod“<br />

(Frankfurt/M., 1972) u.a. auf der Methode der Oral History.<br />

242 So in Schnell 1993 und Winter 1986b.<br />

243 Nieraad, Jürgen 1996: „Begehung des Elfenbeinturms. Zur politischen Funktion des Ästhetischen“, in:<br />

Sven Kramer (Hg.): Das Politische im literarischen Diskurs. Studien zur deutschen Gegenwartsliteratur,<br />

Opladen, 11-31, hier S. 13-14.<br />

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