29.08.2013 Aufrufe

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>„Den</strong> Arbeitern jedenfalls wurden während des Landesstreiks auch die Hosen strammgezogen, in Biel<br />

z.B. gab es drei Tote, aber das war nicht bös gemeint.“ (W, 44, m.H.)<br />

„Während des Landesstreiks bekniet Oberstleutnant Ulrich Wille II, [...] seinen Vater-General, er solle<br />

doch bitte, bitte diese V. Division zur Aufrechterhaltung der Ordnung nach Zürich schicken.“ (W, 63,<br />

m.H.)<br />

„Der Sohn wird wütend, täubelt und trötzelt recht sehr, [...].“ (W, 64, m.H.)<br />

„Sein Vati, der General, erwirkt eine Abkommandierung nach Galizien, und der Junior sieht dort das<br />

Gemetzel ganz aus der Nähe, das ist doch wirklich hochinteressant.“ (W, 76, m.H.)<br />

„Ulrich Wille II wird bestimmt auch seine wunderfitzige Schwester Renée Schwarzenbach-Wille zu<br />

dem Anlass eingeladen haben.“ (W, 80, m.H.)<br />

„Die [Mutter] hintersinnt sich jetzt fast und weiss nicht, wie sie Annemarie domptieren kann, ihr<br />

Peitschchen reicht nicht bis nach Berlin.“ (W, 111, m.H.)<br />

„Dr. Franz Riedweg, der als Arzt in München praktiziert, bekommt glänzige Augen, wenn er vom<br />

Oberstkorpskommandanten spricht.“ (W, 136, m.H.)<br />

„Wille antwortete indigniert: er habe es nicht bös gemeint, sondern patriotisch [...].“ (W, 139, m.H.)<br />

[Landesverrat]<br />

Nun ist der Begriff des Ikonismus zwar ein geeignetes Instrument, um das Funktionieren der<br />

sprachlichen Subcodes in Wille und Wahn zu erklären, indem mit ihm etwa die menschenverachtende<br />

Denkweise des Militarismus in der Sprache selbst wiedergegeben oder familiäre<br />

Verbandelung in der schweizerischen Politik der ersten Jahrhunderthälfte mittels eines Familien-<br />

und Kindercodes reflektiert werden kann – doch ausreichend ist er nicht. Gerade beim<br />

Familien- und Kindercode überlagert nämlich eine zweite Funktion diejenige des Ikonismus<br />

markant: der Witz, der durch Vermischung zweier hochgradig inkongruenter Ebenen entsteht.<br />

Die Verbindung von politisch hochbrisanten Problemen – Wahl eines Generals, Ernennung<br />

eines militärischen Kommandanten zur Niederschlagung des Landesstreiks, Landesverrat –<br />

und idiomatischen Ausdrücken, die zur Bezeichnung kindlichen Verhaltens benutzt werden<br />

(„vergitzeln“, „täubeln“, „nicht bös gemeint“) produziert hier eine unterhaltende, komische<br />

Spannung.<br />

Zur Charakterisierung von <strong>Meienberg</strong>s Sprache insbesondere in Wille und Wahn soll hier<br />

noch ein zusätzlicher Begriff eingeführt werden, der die Untersuchung über den Ikonismus<br />

abschliesst und in einen breiteren Zusammenhang stellt. Der russische Literaturwissenschafter<br />

Michail Bachtin prägt in seiner massgeblichen Arbeit „Das Wort im Roman“ (1940) den Begriff<br />

der „Redevielfalt“ oder Polyphonie, den er als spezifisches Kennzeichen des Romans versteht.<br />

Bachtins Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Wörter niemals ‚neutral‘ auftreten,<br />

sondern stets von bestimmten Intentionen durchdrungen sind: „Allen Wörtern sind der<br />

Beruf, die Gattung, die Richtung, die Partei, das bestimmte Werk, die bestimmten Menschen,<br />

die Generationen, Altersstufen, Tag und Stunde an<strong>zum</strong>erken. Jedem Wort sind der Kontext<br />

und die Kontexte abzulesen, in denen es sein sozial gespanntes Leben geführt hat; alle Wörter<br />

und Formen sind mit Intentionen besetzt.“ 685 Der Prosaschriftsteller, so Bachtin, kann nun,<br />

indem er Wörter benutzt, ohne sie von ihren Intentionen, sozialen und professionellen Kontexten<br />

zu ‚reinigen‘, ein eigenes künstlerisches System der Stimmen- und Redevielfalt erschaffen<br />

– den polyphonen Roman. 686 Genau diese Möglichkeit macht sich <strong>Meienberg</strong> in Wille<br />

und Wahn zunutze: Wie Bachtins Romancier behandelt er die Wörter als Ideologeme, be-<br />

685 Bachtin, Michail M.: „Das Wort im Roman“, in: Rainer Grübel (Hg.): Ders.: Die Ästhetik des Wortes,<br />

Frankfurt/M. 1979, 185.<br />

686 Ebda, 190.<br />

150

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!