„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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3) Der Reportageroman ist eine insbesondere im Bereich der Arbeiterliteratur benutzte Form<br />
der Dokumentarprosa. Max von der Grün, ein zentraler Vertreter der Gruppe 61, legte<br />
1963 seinen zweiten Roman Irrlicht und Feuer 220 vor, in welchem er u.a. seine eigenen<br />
Erfahrungen in der Arbeit unter Tag darstellte. Der realistisch-sozialkritische Text wollte<br />
die Problematik von Zechenstillegungen, den „Klassenkampf von oben“ sowie das Weiterwirken<br />
der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Gegenwart aufzeigen und hat<br />
einige Reaktionen ausgelöst. 221<br />
4) Als klassisches Beispiel des Dokumentarromans gilt Alexander Kluges Schlachtbeschreibung<br />
222 (1964), ein Text, der ebenfalls aus Ausdruck eines profunden Misstrauens gegenüber<br />
auktorialem fiktionalem Erzählen verstanden werden kann. Kluge montierte eine<br />
Vielzahl äusserst heterogener Quellen über den Untergang der sechsten Armee bei Stalingrad,<br />
die er weitgehend ohne Interpretation oder Kommentar zu einem neuen Ensemble<br />
vereinigt, das allein durch das Arrangement und die Gewichtung der einzelnen Realitätssplitter<br />
spricht. Bemerkenswert ist dabei Kluges Intention, scheinbar objektive und sachliche<br />
Dokumente wie Heeresberichte oder militärische Anleitungen in ihrer ideologischen<br />
Prägung zu entlarven und damit ihren Authentizitätsanspruch in Frage zu stellen. 223<br />
5) Die Dokumentarsatire ist eine Entwicklung von Friedrich Christian Delius, der mit seinem<br />
1972 erschienenen Text Unsere Siemens-Welt 224 eine ganze Prozesslawine auslöste. Delius<br />
benutzte anlässlich des 125-jährigen Bestehens des Siemens-Konzerns die Form der<br />
Festschrift, um mittels übersteigerter Panegyrik und bewusster sprachlicher Naivität satirische<br />
Kritik am Unternehmen und dessen nationalsozialistischer Vergangenheit anzubringen.<br />
Der literarische Wert des Textes wird in jüngeren Arbeiten eher bestritten, da der Parodist<br />
Delius negativ an seinen sprachlichen Gegenstand gebunden ist – Parodie beruht<br />
stets auf der Imitation einer bestimmten Vorlage. Der Autor habe deshalb keine Möglichkeit,<br />
eine eigene literarische Sprache zu entwickeln. Andererseits werden der klare referentielle<br />
Bezug und die eindeutige Aussage als Voraussetzung für eine wirkungsvolle Anprangerung<br />
der Verbindung zwischen Siemens und dem Nationalsozialismus bewertet. 225<br />
Dem muss entgegengehalten werden, dass auch mit der parodistischen oder satirischen<br />
Imitation einer sprachlichen Vorlage eine eigene literarische Sprache entwickelt werden<br />
kann: <strong>Meienberg</strong> beweist dies auf brillante Weise in Wille und Wahn.<br />
Zum Schluss dieses Kapitels soll nun ein zentraler literaturtheoretischer Essay diskutiert werden,<br />
der die wichtigsten Gründe für das in den 60er Jahren grassierende Misstrauen der linken,<br />
gesellschaftskritischen Intelligenz gegenüber der literarischen Fiktion zusammenfasst,<br />
der Resonanz dokumentarischer Konzepte nochmals mächtig Auftrieb verleiht und Schlüsselbegriffe<br />
auch für die Argumentation Nachkommender prägt. Die Nummer 15 der Zeitschrift<br />
Kursbuch aus dem Jahr 1968, in welcher Enzensbergers Aufsatz „Gemeinplätze, die Neueste<br />
220<br />
Von der Grün, Max: „Irrlicht und Feuer“, Reinbek b. Hamburg 1969.<br />
221<br />
Schnell 1993: 362.<br />
222<br />
Kluge, Alexander: „Schlachtbeschreibung“, [rev. und erw. Fassung von 1978], Frankfurt/M. 1983.<br />
223<br />
Winter 1986a: 396.<br />
224<br />
Delius, Friedrich Christian: „Unsere Siemens-Welt. Eine Festschrift <strong>zum</strong> 125jährigen Bestehenn des Hauses“,<br />
[erw. Neuausgabe], Hamburg 1995.<br />
225<br />
Dieterle, Bernard 1997: „Ein Dokument der Dokumentarliteratur. Paratextuelle Überlegungen zu Delius‘<br />
Festschrift Unsere Siemens-Welt“, in: Manfred Durzak; Hartmut Steineckem (Hg.) 1997: F. C. Delius. Studien<br />
über sein literarisches Werk, Tübingen, 33-47, hier S. 45.<br />
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