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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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nante Thesen, die wie in Ernst S. oder Wille und Wahn die zentrale Aussage des Textes zusammenfassen<br />

würden, gibt es in Bavaud nicht. Vielmehr bemüht sich <strong>Meienberg</strong>, Widersprüche<br />

offenzulassen. Wenn man diesen Text mit der eingängigen Erzähl- und Argumentationsstruktur<br />

von Ernst S. vergleicht, wird bis zu einem gewissen Punkt verständlich, wie besagter<br />

Kritiker Bavaud als „surrealistisches Gemälde mit vielen Treppenabsätzen“ bezeichnen<br />

konnte – nur ist damit noch nicht alles gesagt.<br />

<strong>Meienberg</strong>s dritte historische Arbeit, Die Welt als Wille und Wahn, ist m.E. der beste, schönste<br />

und unterhaltendste Text von allen dreien. Im Unterschied zu den beiden vorherigen Arbeiten<br />

basiert er hauptsächlich auf schriftlichen Quellen. Am spektakulärsten sind dabei die privaten<br />

Generalsbriefe, deren Entdeckung ja die Initialzündung für das ganze Buch darstellte.<br />

Dass der Oral-History-Anteil in diesem Buch so klein ist (3,5 Prozent 640 ), hat verschiedene<br />

Gründe. Der wichtigste besteht darin, dass der porträtierte Wille-Clan zur gesellschaftlichen<br />

Elite gehört, was zur Folge hat, dass <strong>zum</strong>indest über dessen öffentliches Wirken eine Vielzahl<br />

schriftlicher Dokumente vorliegen und auch zugänglich sind. 641 Ein zweiter Grund liegt darin,<br />

dass sich die meisten Angehörigen des Clans den Fragen des kritischen Rechercheurs verweigerten<br />

– <strong>Meienberg</strong> beschreibt das so: „Die Schweiz ist klein, und wenn man ein bekanntes<br />

Gesicht mit sich herumträgt, gehen schnell die Roll-Läden herunter.“ (W, 222-223) Die narrative<br />

Struktur des Werkes ist im Mikrobereich ähnlich komplex wie in Bavaud, doch lässt sich<br />

für die einzelnen Kapitel jeweils so etwas wie eine inhaltliche Hauptebene ausmachen. Auf<br />

eine Analyse einzelner Erzählsequenzen wird deshalb bei Wille und Wahn verzichtet.<br />

In einem ersten Zugriff können die sieben Kapitel des Buches folgendermassen gegliedert<br />

werden: Das erste Kapitel, „Leben und Denken auf Mariafeld“, kann als Prolog verstanden<br />

werden, der die wichtigsten Themen und Figuren vorwegnimmt – eine Art Konzentrat des<br />

ganzen Buches in einem Kapitel. Dies entspricht einerseits einer für <strong>Meienberg</strong> charakteristischen<br />

narrativen Technik; auch in den anderen beiden historischen Arbeiten operiert er nämlich<br />

mit Prologen, die Inhalt und Tonfall des ganzen Textes präzise vorzeichnen (vgl. Kap.<br />

4.1.1.2). Andererseits muss der Prolog in Wille und Wahn auch in seinem Entstehungszusammenhang<br />

betrachtet werden: <strong>Meienberg</strong> veröffentlichte den Text zuerst als Artikelserie in<br />

der „Weltwoche“ und setzte deshalb, mit Erfolg, sämtliche narrativen und rhetorischen Tricks<br />

ein, um die Leser <strong>zum</strong> Kauf der nächsten Ausgabe zu animieren. 642 Das zweite Kapitel handelt<br />

ausschliesslich von General Ulrich Wille; das dritte skizziert die militärische Karriere von<br />

dessen Sohn (Wille II); das vierte rekonstruiert den Hitler-Besuch in Zürich von 1923 – zentrale<br />

Clan-Figur ist hier wiederum Wille II. Der Schwester von Wille II, Renée Schwarzenbach-Wille,<br />

ist das fünfte Kapitel gewidmet, und in den beiden letzten Kapiteln treten hauptsächlich<br />

Angehörige der dritten Wille-Generation auf. Wille und Wahn stellt damit eine eigentliches<br />

‚Familienchronik‘ über drei Generation dar, die beim übermächtigen General und<br />

640<br />

5 von 140 Seiten.<br />

641<br />

Aus diesem Grund ist Oral History eben die klassische Methode zur Quellen-Produktion für Themen aus<br />

der gesellschaftlichen Unterschicht.<br />

642<br />

Zu den rhetorischen Tricks, die <strong>zum</strong> Kauf der nächsten Zeitungsausgabe animieren sollten, gehört beispielsweise<br />

<strong>Meienberg</strong>s Technik, einen ‚heissen‘ Sachverhalt knapp zu erwähnen und die Erzählung darauf<br />

gleich wieder abzubrechen mit dem Verweis: „aber davon später“. (dreimal zu finden in Wille und Wahn: 19,<br />

28,78.)<br />

121

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