29.08.2013 Aufrufe

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

erschliesst. Im Kapitel „Heimat II“ (B, 102-105) diskutiert <strong>Meienberg</strong> auf einer allgemeinen<br />

Reflexionsebene die wohlfeile Empörung, die sich bei ihm als Schweizer Historiker einstellte,<br />

als er dem verbreiteten Anpassertum der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus nachging.<br />

Über zwei aktuelle Beispiele aus der Schweiz der Gegenwart kommt er jedoch <strong>zum</strong><br />

Schluss, dass Ausgrenzung, Unterdrückung politisch devianter Meinungen und Anpassertum<br />

auch in der gegenwärtigen Schweiz existieren und es folglich nicht angebracht sei, sich in der<br />

eigenen moralischen Überlegenheit zu sonnen. Am Schluss dieses Kapitels wiederholt <strong>Meienberg</strong><br />

das Eingangsmotto: „Hier, in Brandenburg, herrscht ein ewiger Winter. Es regnet, es<br />

ist kalt. Und in der Schweiz?“ (B, 105, m.H.) Vor dem Hintergrund dieses Kapitels wird das<br />

Motto weitgehend umsemantisiert. Das ganze Gewicht des Zitates liegt nun auf der Frage:<br />

„Und in der Schweiz?“ Bezog sich Maurice Bavauds Frage wohl hauptsächlich auf das Wetter,<br />

so weitet <strong>Meienberg</strong> diese Frage auf die politische Standfestigkeit und Widerstandsbereitschaft<br />

der Schweizer im Allgemeinen aus. Das harmlose Zitat des inhaftierten Briefschreibers<br />

erhält in <strong>Meienberg</strong>s Erzählung plötzlich eine geschichtspolitische Dimension: Ist das Geschichtsbild<br />

der widerstandsentschlossenen, moralisch überlegenen Schweiz, das 1980, zur<br />

Zeit der Publikation von Bavaud nach wie vor dominant war und sich zentral gegen deutsche<br />

Handlungen und Mentalitäten abgrenzte, tatsächlich so stichfest? Fragen stellen, statt tröstende<br />

Antworten liefern: Das ist der grundlegende intellektuelle Impuls von <strong>Meienberg</strong>s historiografischer<br />

Prosa, der aus diesem, auf den ersten Blick rätselhaften, Motto spricht. Er legt<br />

eine Lektüre nahe, die sich nicht auf eine selbstzufriedene Zur-Kenntnis-Nahme des Schweizer<br />

Attentatsversuches beschränkt, sondern dazu anregt, das andere, deutsche Verhalten in<br />

Bavauds Geschichte als beunruhigende Frage für die Schweiz aufzufassen. Hätten die<br />

Schweizer, nur weil sie Schweizer sind, unter den gegebenen Umständen im damaligen<br />

Deutschland anders gehandelt?<br />

Der Textanfang in Bavaud, ein 17 Zeilen langes, mehrheitlich im Konjunktiv gehaltenes,<br />

kunstvoll gebautes Satzgefüge, bildet mit Titel, Untertitel und Motto keine inhaltliche Einheit<br />

wie in Ernst S., sondern setzt auf einer anderen Ebene ein. Erzähltechnisch ist folgendes von<br />

Bedeutung am Textanfang: Er markiert erstens den literarischen Anspruch des Textes, fungiert<br />

als eine Art „Konsumbarriere“; er kündet zweitens, indem er auf der Reportage- bzw.<br />

Rechercheebene einsetzt, das historiografische Verfahren des ganzen Buches an, nämlich das<br />

permanente Pendeln zwischen Vergangenheit und Gegenwart; er verweist drittens durch die<br />

Platzierung einer Oral-History-Passage am unmittelbaren Beginn des Textes programmatisch<br />

auf die Wichtigkeit dieses Quellenproduktionsverfahrens für die Entstehung seiner Geschichte.<br />

Noch raffinierter ist der Textanfang auf der inhaltlichen Ebene. Beginnt Ernst S. schnörkellos<br />

mit dem dramatischen Höhepunkt der ganzen Geschichte, so verfährt <strong>Meienberg</strong> in Bavaud<br />

sozusagen genau umgekehrt, mit einem ‚Nebenthema‘, wie man meinen könnte, und mit<br />

einer Nebenfigur. Der Leser muss sich fragen, was wohl der „Saufrass“ in einem Klosterinternat<br />

mit dem Hitler-Attentat von Maurice Bavaud zu tun haben könnte. Doch die Zusammenhänge<br />

erschliessen sich nach und nach. Bereits eine Seite später taucht das Ess-Motiv<br />

wieder auf, diesmal auf der autobiografischen Ebene des Textes. <strong>Meienberg</strong> erinnert sich,<br />

dass auch er einen empörenden „Saufrass“ vorgesetzt bekam (B, 8-9). Auf diese Weise gelingt<br />

es dem Erzähler, anhand eines konkreten Beispiels auf die europaweite Homogenität jener<br />

Kultur des Katholizismus aufmerksam zu machen, welche den autobiografischen Erklärungshorizont<br />

in Bavaud legitimiert. Die narrative Effizienz des Ess-Motivs wird in einer wei-<br />

133

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!