„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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erschliesst. Im Kapitel „Heimat II“ (B, 102-105) diskutiert <strong>Meienberg</strong> auf einer allgemeinen<br />
Reflexionsebene die wohlfeile Empörung, die sich bei ihm als Schweizer Historiker einstellte,<br />
als er dem verbreiteten Anpassertum der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus nachging.<br />
Über zwei aktuelle Beispiele aus der Schweiz der Gegenwart kommt er jedoch <strong>zum</strong><br />
Schluss, dass Ausgrenzung, Unterdrückung politisch devianter Meinungen und Anpassertum<br />
auch in der gegenwärtigen Schweiz existieren und es folglich nicht angebracht sei, sich in der<br />
eigenen moralischen Überlegenheit zu sonnen. Am Schluss dieses Kapitels wiederholt <strong>Meienberg</strong><br />
das Eingangsmotto: „Hier, in Brandenburg, herrscht ein ewiger Winter. Es regnet, es<br />
ist kalt. Und in der Schweiz?“ (B, 105, m.H.) Vor dem Hintergrund dieses Kapitels wird das<br />
Motto weitgehend umsemantisiert. Das ganze Gewicht des Zitates liegt nun auf der Frage:<br />
„Und in der Schweiz?“ Bezog sich Maurice Bavauds Frage wohl hauptsächlich auf das Wetter,<br />
so weitet <strong>Meienberg</strong> diese Frage auf die politische Standfestigkeit und Widerstandsbereitschaft<br />
der Schweizer im Allgemeinen aus. Das harmlose Zitat des inhaftierten Briefschreibers<br />
erhält in <strong>Meienberg</strong>s Erzählung plötzlich eine geschichtspolitische Dimension: Ist das Geschichtsbild<br />
der widerstandsentschlossenen, moralisch überlegenen Schweiz, das 1980, zur<br />
Zeit der Publikation von Bavaud nach wie vor dominant war und sich zentral gegen deutsche<br />
Handlungen und Mentalitäten abgrenzte, tatsächlich so stichfest? Fragen stellen, statt tröstende<br />
Antworten liefern: Das ist der grundlegende intellektuelle Impuls von <strong>Meienberg</strong>s historiografischer<br />
Prosa, der aus diesem, auf den ersten Blick rätselhaften, Motto spricht. Er legt<br />
eine Lektüre nahe, die sich nicht auf eine selbstzufriedene Zur-Kenntnis-Nahme des Schweizer<br />
Attentatsversuches beschränkt, sondern dazu anregt, das andere, deutsche Verhalten in<br />
Bavauds Geschichte als beunruhigende Frage für die Schweiz aufzufassen. Hätten die<br />
Schweizer, nur weil sie Schweizer sind, unter den gegebenen Umständen im damaligen<br />
Deutschland anders gehandelt?<br />
Der Textanfang in Bavaud, ein 17 Zeilen langes, mehrheitlich im Konjunktiv gehaltenes,<br />
kunstvoll gebautes Satzgefüge, bildet mit Titel, Untertitel und Motto keine inhaltliche Einheit<br />
wie in Ernst S., sondern setzt auf einer anderen Ebene ein. Erzähltechnisch ist folgendes von<br />
Bedeutung am Textanfang: Er markiert erstens den literarischen Anspruch des Textes, fungiert<br />
als eine Art „Konsumbarriere“; er kündet zweitens, indem er auf der Reportage- bzw.<br />
Rechercheebene einsetzt, das historiografische Verfahren des ganzen Buches an, nämlich das<br />
permanente Pendeln zwischen Vergangenheit und Gegenwart; er verweist drittens durch die<br />
Platzierung einer Oral-History-Passage am unmittelbaren Beginn des Textes programmatisch<br />
auf die Wichtigkeit dieses Quellenproduktionsverfahrens für die Entstehung seiner Geschichte.<br />
Noch raffinierter ist der Textanfang auf der inhaltlichen Ebene. Beginnt Ernst S. schnörkellos<br />
mit dem dramatischen Höhepunkt der ganzen Geschichte, so verfährt <strong>Meienberg</strong> in Bavaud<br />
sozusagen genau umgekehrt, mit einem ‚Nebenthema‘, wie man meinen könnte, und mit<br />
einer Nebenfigur. Der Leser muss sich fragen, was wohl der „Saufrass“ in einem Klosterinternat<br />
mit dem Hitler-Attentat von Maurice Bavaud zu tun haben könnte. Doch die Zusammenhänge<br />
erschliessen sich nach und nach. Bereits eine Seite später taucht das Ess-Motiv<br />
wieder auf, diesmal auf der autobiografischen Ebene des Textes. <strong>Meienberg</strong> erinnert sich,<br />
dass auch er einen empörenden „Saufrass“ vorgesetzt bekam (B, 8-9). Auf diese Weise gelingt<br />
es dem Erzähler, anhand eines konkreten Beispiels auf die europaweite Homogenität jener<br />
Kultur des Katholizismus aufmerksam zu machen, welche den autobiografischen Erklärungshorizont<br />
in Bavaud legitimiert. Die narrative Effizienz des Ess-Motivs wird in einer wei-<br />
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