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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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solchem – wie es beispielweise für die Lokalgeschichte typisch ist – sondern weil das Kleine,<br />

vergrössert unter dem Mikroskop, mehr sichtbar machen kann. 402 Vergrössert unter dem Mikroskop<br />

kann heissen, wie Carlo Ginzburg anmerkte, aus dem, was im Normalfall eine Fussnote<br />

abgibt, ein ganzes Buch zu machen. 403 Genauso ist <strong>Meienberg</strong>s Die Erschiessung des Landesverräters<br />

Ernst S. entstanden: Aus den wenigen, verklausulierten Bemerkungen über die<br />

Landesverräter im Bonjour-Bericht hat er seine grosse Untersuchung gemacht. Die Konzentration<br />

auf ein beschränktes Beobachtungsfeld der historischen Rekonstruktion soll zu einer<br />

qualitativen Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten führen, erlaubt doch der mikroskopische<br />

Blick – und nur er – eine totalisierende Perspektive auf die Lebenswirklichkeit eines Individuums.<br />

Durch die möglichst vielseitige und genaue Durchleuchtung einer individuellen<br />

Biografie können die Wechselbeziehungen von kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen<br />

Momenten als lebensgeschichtlicher Zusammenhang betrachtet werden. In den sozialen<br />

Beziehungsnetzen und Handlungszusammenhängen im Kleinen sollen also die grossen<br />

gesellschaftlichen Zusammenhänge – Lukács „Gesamtprozess“ – sichtbar werden. 404 Damit<br />

kann Mikrogeschichte als paradigmatischer Weg für eine Überwindung der klassischen Opposition<br />

zwischen subjektiven Singularitäten (Personen) und objektiven Determinanten<br />

(Strukturen) gelten. 405<br />

Die Idee einer Totalisierung ‚im Detail‘ entspricht ziemlich exakt den Vorstellungen <strong>Meienberg</strong>s,<br />

die er etwa in seinen Frankreich-Reportagen ausführt: „Hier sollte im Detail berichtet<br />

werden von einem Frankreich, das ich seit 1968 erlebte. Im Detail spiegelt sich hoffentlich<br />

das Ganze. Es wurden Ausschnitte geliefert und Einzelheiten aus dem sozialen Gewebe herauspräpariert.<br />

An einem Punkt wurde angesetzt und jeweils tief gebohrt. Wenn man tief genug<br />

eindringt, trifft man Strukturen, die sich nur langsam ändern.“ 406 <strong>Meienberg</strong> begriff den Zusammenhang<br />

zwischen dem Detail und „dem Ganzen“ ebenso wie zahlreiche Vertreter der<br />

Mikrogeschichte im Sinne eines Repräsentationsverhältnisses: Das Kleine soll das Grosse widerspiegeln,<br />

aus mikroskopischen Beobachtungen sollen allgemeine Schlüsse gezogen werden,<br />

nach dem Motto: small facts can speak to large issues. 407 Der Begriff des Mikroskops<br />

findet sich bei <strong>Meienberg</strong> übrigens wörtlich. 408 Der Vollständigkeit halber muss aber erwähnt<br />

werden, dass wichtige Vertreter der Mikrogeschichte wie Carlo Ginzburg diese Art von<br />

selbstverständlicher Analogie bzw. Übertragbarkeit vom mikroskopischen auf den makroskopischen<br />

Bereich zurückwiesen und stattdessen die Aussergewöhnlichkeit und Singularität ihrer<br />

Gegenstände betonten. 409 Freilich hatte auch Ginzburg – via Abweichung – immer die<br />

402 Lüdtke, Alf 1998: „Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie“, in: Hans-Jürgen Goertz<br />

(Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg, 557-578, hier S. 569. Dieser Anspruch, mehr<br />

zu sehen unter dem Mikroskop, zeigt auch die begrenzte Komplementarität der Mikro- und Makroperspektive:<br />

Nicht alles an historischer Realität lässt sich in seine ‚atomaren‘ Teile zerlegen, und was unter dem Mikroskop<br />

entdeckt wurde, sind nicht bloss die Details, welche die Makrogeschichte übersehen hat, sondern<br />

kann durchaus ganz neue Erkenntnisse enthalten.<br />

403 Ginzburg 1993: 181.<br />

404 Medick, Hans 1994: „Mikro-Historie“, in: Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte,<br />

Mikro-Historie, Göttingen, 40-53, hier S. 44-45.<br />

405 Chartier, Roger 1998: „Au bord de la falaise. L’histoire entre certitudes et inquiétude“, Paris, 11-12.<br />

406 SG, 233. Auch in diesem Zitat operiert <strong>Meienberg</strong> wieder mit medizinisch-chirurgischen Metaphorik!<br />

407 Die Kritikerin Beatrice von Matt etwa hob <strong>Meienberg</strong>s Fähigkeit hervor, „geschilderte Konstellationen“<br />

stellvertretend für „Verhältnisse im grösseren“ stehen zu lassen. (von Matt 1983: 854.)<br />

408 Lerch/Sutter 1984: 70.<br />

409 Ginzburg, Carlo: „Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiss“, in: Historische Anthropo-<br />

logie I (1993), 169-192, hier S.191.<br />

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