„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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eit, weiter zu gehen als <strong>Meienberg</strong>. Im New Journalism sind fortgesetzte dramatische Inszenierungen,<br />
lange Dialoge, durchgängige Figurenperspektiven und – nicht unumstritten<br />
– innere Monologe gängige Erzähltechniken (siehe Kap. 2.2.2). Bei <strong>Meienberg</strong> gibt es all<br />
dies auch, <strong>zum</strong>indest in Wille und Wahn; aber nur ansatzweise, nur stellenweise, ausschliesslich<br />
mit sorgfältiger Markierung, einer ganzen Semiotik der Verbindlichkeitsunterschiede<br />
und aufwändigen Plausibilisierungsverfahren.<br />
3) Die Oral History als Methode der sozialgeschichtlich orientierten Zeitgeschichtsforschung<br />
ist das dritte gemeinsame Merkmal von <strong>Meienberg</strong>s historischen Arbeiten, und ihre Bedeutung<br />
für seine Geschichtsschreibung kann trotz sinkendem Textanteil – von ca. 40<br />
Prozent in Ernst S. zu ca. 5 Prozent in Wille und Wahn – kaum überschätzt werden. Mit<br />
ihr gelang es <strong>Meienberg</strong>, in exemplarischer Weise in Ernst S., gesellschaftliche Perspektiven<br />
und individuelle Erfahrungen von Angehörigen der sozialen Unterschicht sichtbar zu<br />
machen, die aufgrund fehlender schriftlicher Dokumente spurlos verschwunden wären. Es<br />
war die Oral History, die es ihm erlaubte, die sozialen Gegensätze zwischen der gesellschaftlichen<br />
Elite und der sozialen Unterschicht an konkreten Beispielen fassbar und plausibel<br />
zu machen – sie ist die zentrale methodische Basis für seine „Gegengeschichten“,<br />
mit welchen er ab den 70er Jahren unter dem vagen Schlagwort „Geschichte von unten“<br />
das dominante schweizerische Geschichtsbild und die offiziellen Lesarten über die Zeit<br />
des Zweiten Weltkrieges herauszufordern und zu erschüttern vermochte. Hinzu kommt,<br />
dass die Oral History die einzige historiografische Methode ist, zu welcher sich <strong>Meienberg</strong><br />
explizit geäussert hat. Anhand von ihr hat er, in Kombination mit der Erfahrung aus<br />
seiner journalistischen Praxis, seine grundlegende Positionen in Bezug auf die Rolle der<br />
Subjektivität oder dem Wesen der ‚Fakten‘ in der Geschichtsschreibung erarbeitet. Als<br />
unentbehrliche Grundlage für seine schweizerdeutsch-standarddeutsche Kunstsprache ist<br />
die Oral History ausserdem von grosser Bedeutung für sein Konzept einer ikonischen<br />
Sprachverwendung. 705<br />
4) Das Empathie-Konzept als hermeneutische Technik der Aneignung vergangener Wirklichkeit<br />
ist ein viertes gemeinsames Merkmal der historischen Arbeiten und markiert <strong>Meienberg</strong>s<br />
spezifische Vorstellung von Subjektivität in der Geschichtsschreibung. Er vertritt<br />
dabei den Anspruch, dass sich durch den Einbezug der persönlichen Gefühle, die während<br />
der Recherche entstehen, die Möglichkeiten des Verstehens erweitern lassen. Die Untersuchung<br />
hat gezeigt, dass diese unreflektierte ‚Befreiung‘ der in der Wissenschaft nach<br />
<strong>Meienberg</strong>s Ansicht „unterdrückten“ Gefühle bzw. der Subjektivität bei ihm aber stellenweise<br />
Formen einer hypertrophen „Einfühlung“ annimmt, die auf eine narzisstisch geprägte,<br />
unbewusste Identifikation mit dem Protagonisten seiner Geschichte hinausläuft (Ernst<br />
S.); ähnliche Strukturen konnten, in abgeschwächter Form, auch in Bavaud festgestellt<br />
werden. Von noch grösserer Bedeutung ist das Empathie-Konzept allerdings als rhetorische<br />
Wirkungsstrategie, die auf der hier genannten hermeneutischen Einfühlung basiert<br />
705 Wenn die Methode der Oral History einerseits eine zentrale Quelle darstellt für die authentische Redewiedergabe<br />
bei der Sprache der Unterschichten (innerhalb des Ikonismus-Konzeptes), so könnte sie andererseits<br />
auch als Hindernis für eine freiere künstlerische Gestaltung von historischen Erzählungen begriffen werden.<br />
Der geringe Oral-History-Anteil in Wille und Wahn erlaubt es <strong>Meienberg</strong>, ein teilweise neues, jedenfalls viel<br />
breiteres Repertoire an literarischen Darstellungsmitteln einzusetzen.<br />
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