„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
ikerin Davis über Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre 582 :<br />
„Die Forschungsarbeit und die Erzählung von Natalie Davis fussen nicht auf dem Gegensatz<br />
zwischen ‚Wahrem‘ und ‚Erfundenem‘, sondern auf der stets gewissenhaft gekennzeichneten<br />
Ergänzung von ‚Wirklichkeiten‘ durch Möglichkeiten‘. Daher wimmelt es in ihrem Buch von<br />
Ausdrücken wie ‚vielleicht‘, ‚sie mussten wohl‘, ‚man kann annehmen‘, ‚gewiss‘ (was in der<br />
Sprache der Historiographie soviel wie ‚sehr wahrscheinlich‘ bedeutet) und so weiter.“ 583<br />
Ginzburg zielt mit diesem Kommentar auf die Relativierung einer Stellungnahme von Davis,<br />
die im Vorwort ihres Buches bemerkte: „Was ich meinem Leser vorlege, ist <strong>zum</strong> Teil Invention,<br />
jedoch sorgfältig gesteuert durch die Stimmen der Vergangenheit.“ 584 Der Begriff der Invention,<br />
vermutlich eine etwas zaghafte Übersetzung des französischen „invention“ (Erfindung),<br />
ist nach Ginzburg ebenso ungeeignet wie derjenige der Fiktion zur Bezeichnung ihrer<br />
historischen Mutmassungen oder Abduktionen, da diese – genau wie bei <strong>Meienberg</strong> – keineswegs<br />
‚frei erfunden‘, sondern „sorgfältig gesteuert durch die Stimmen der Vergangenheit“<br />
vorgenommen werden, das heisst auf der Grundlage einer soliden Dokumentation.<br />
Ginzburg betont ferner die Wichtigkeit der präzisen Markierung jener abduktiven Passagen<br />
durch Heckenausdrücke (vielleicht, vermutlich) oder den Gebrauch von Modalverben, um den<br />
Leser auf deren verminderte Referentialität hinzuweisen: Es sei nicht statthaft, den Indikativ<br />
zu gebrauchen, wo ein Konjunktiv angebracht wäre. Der prinzipielle Wahrheitsanspruch und<br />
Wirklichkeitsbezug bleibt von dieser reduzierten Referentialität aber unberührt: „Begriffe wie<br />
‚Fiktion‘ oder ‚Möglichkeiten‘ [=Abduktion, P.M.] dürfen freilich nicht in die Irre führen. Die<br />
Frage nach dem Beweis steht mehr denn je im Zentrum der historischen Forschung. [...] Natalie<br />
Davis‘ Versuch, die Lücken zu umgehen durch eine aus Archiven gewonnene Dokumentation,<br />
die in bezug auf Ort und Zeit der verlorengegangenen oder nie vorhanden gewesenen<br />
Dokumentation ähnlich ist, ist nur eine von vielen möglichen Lösungen. [...]. Zu denen, die<br />
mit Sicherheit auszuschliessen sind, gehört die Erfindung.“ 585 Abduktionen zielen ebenso sehr<br />
auf eine äussere, verifizierbare Wirklichkeit wie der ‚gesicherte‘ Teil der historischen Erzählung.<br />
Aus diesem Grund akzentuiert Ginzburg hier die Frage nach den „Beweisen“. Und darin<br />
besteht auch die zentrale Differenz zwischen der „Möglichkeit“ als Fiktion und der „Möglichkeit“<br />
als Abduktion: Während erstere als literarische Setzung nicht hintergehbar ist, bleibt<br />
letztere an das Kriterium der Plausibilität gebunden und ist wie alle Aussagen in der Historiografie<br />
jederzeit falsifizierbar. 586<br />
In dieselbe Richtung wie Ginzburg – auf Wahrheit – zielt auch Georges Duby, wenn er sagt:<br />
„Und ich erfinde ja nicht, nun ja ... ich erfinde zwar, bin dabei aber bemüht, das von mir Er-<br />
582<br />
Davis, Natalie Zemon 1989: „Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre. Mit einem<br />
Nachwort von Carlo Ginzburg“, Frankfurt/M.. Dieser Text erschien erstmals 1982 unter dem Titel „Le<br />
retour de Martin Guerre“.<br />
583<br />
Davis 1989: 190.<br />
584<br />
Ebda, 20.<br />
585<br />
Ebda, 211-212.<br />
586<br />
Ginzburg ist dem entsprechend auch ein entschiedener Gegner relativistischer Einebnungen zwischen der<br />
Literatur und der Geschichtsschreibung. Die Einsicht in die narrative Dimension der Geschichtsschreibung,<br />
wie sie etwa Hayden White betont, mit der Suspendierung jeglichen Wahrheitsanspruches zu verbinden, hält<br />
er für puren Unsinn. Die grössere Bewusstheit der narrativen Dimension in der Geschichte bringt nach Ginzburg<br />
keine Abschwächung, sondern vielmehr eine Intensivierung ihrer Erkenntnismöglichkeiten, und zwar<br />
über die radikale Kritik an ihrer Sprache. Ein Beispiel für einen differenzierten Sprachgebrauch sieht er gerade<br />
in der narrativen Mikrogeschichte, die hier zur Debatte steht: Hier wird keine Glätte und Sicherheit vorgetäuscht,<br />
wo Lücken bestehen, und der Forschungsweg wird in die Erzählung einbezogen. (Ebda, 205-206.)<br />
108