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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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3.3. Konzepte des Schreibens<br />

3.3.1. Der epistemologische Standpunkt<br />

<strong>Meienberg</strong> hat sich in seinen journalistischen und historiografischen Arbeiten immer wieder<br />

mit Fragen der Epistemologie auseinandergesetzt. Eines seiner drängendsten Anliegen war die<br />

Kritik am traditionellen Objektivitätsbegriff. So schreibt er in seiner Reflexion über das Magazinjournalismus-Konzept<br />

des Journalismus-Dozenten Haller: „Zwar hat der NM-Journalist<br />

[Nachrichten-Magazin-Journalist, P.M.] eine ganz bestimmte Meinung und die Meinung hat<br />

dazu geführt, dass er bestimmte Fakten aufstöberte, aber er darf sie nicht als Meinung kundtun,<br />

sondern muss sie als Faktum verkaufen. Haller tut so, als ob die Meinung nur von den<br />

Fakten bestimmt wäre, als ob nicht am Anfang einer Recherche bestimmte Kategorien auch<br />

im Kopf jedes NM-Journalisten vorhanden wären, die ihm gestatten, einen Teil der Wirklichkeiten<br />

aufzunehmen und den anderen auszuschliessen. Der Erkenntnisprozess soll nicht dargestellt<br />

werden, nur das fertige Resultat. Mir scheint aber, die intellektuelle Redlichkeit verlange<br />

vom Journalisten, dass er seine Kategorien offen auf den Tisch lege und im Verlauf der<br />

Recherche demonstriere, wie er zu seinen Resultaten kommt, inwiefern z.B. die anfänglichen<br />

Kategorien von der Wirklichkeit dementiert oder bekräftigt werden. Es ist nicht gleichgültig,<br />

unter welchen Bedingungen der Journalist etwas erforscht, der Leser möchte das auch gerne<br />

wissen, damit er nicht nur konsumieren, sondern auch Distanz nehmen oder sich annähern<br />

kann. Das wird ihm verunmöglicht, wenn das journalistische Produkt als etwas Objektives,<br />

Fix-Fertiges, ein für allemal Fixiertes hingestellt wird, [...].“ 454<br />

Der Begriff der „Kategorien“ (auch: des „Koordinatensystems“) nimmt in <strong>Meienberg</strong>s Objektivitätskritik<br />

eine zentrale Stellung ein. Was er damit bezeichnet, ist die notwendige Perspektivität<br />

jeglicher Wirklichkeitsaneignung, die sich in spezifischen Fragestellungen ausdrückt:<br />

„Kategorien sind Wünschelruten: Man geht mit ihnen übers Feld, field research, und wenn da<br />

etwas begraben liegt, schlagen sie aus.“ 455 Es ist weder dem Journalisten noch dem Historiker<br />

gegeben, sich selbst ‚auszulöschen‘ und nur die ‚Dinge selbst‘ sprechen zu lassen. <strong>Meienberg</strong><br />

forderte deshalb in alter aufklärerischer Tradition eine sogenannte Standpunktreflexion, welche<br />

die eigenen Perspektiven explizit macht und begründet. 456 Wichtig ist für <strong>Meienberg</strong>s dialektische<br />

Auffassung der Objektivität 457 ferner die Rechenschaftslegung über die Validität der<br />

eigenen Forschungsprämissen. Er hat seine Bereitschaft zu einer derartigen „Revision durch<br />

Faktenzwang“ für seine erste historische Arbeit mehrmals signalisiert. 458<br />

Objektivität in einem absoluten Sinn betrachtet <strong>Meienberg</strong> zu Recht als unmöglich und umschreibt<br />

sie ähnlich, wie es Roland Barthes in seinem wegweisenden Aufsatz „Le discours de<br />

454<br />

„Eine Lanze“, in: WSp, 195-196.<br />

455<br />

SG, 138.<br />

456<br />

Vgl. hierzu Lorenz 1997: 418.<br />

457<br />

Im Gegensatz zu einer absoluten Auffassung von Objektivität, welche jegliche „störende“ Subjektivität zu<br />

verbannen sucht, geht die dialektische Auffassung von Objektivität davon aus, dass Objekte erst in der<br />

Wechselwirkung von Subjekt und Objekt als Erkenntnisobjekt konstruiert werden und uns als solche erscheinen.<br />

Die dialektische Objektivitätsauffassung anerkennt und integriert die notwendige Subjektivität jeder Erkenntnis<br />

damit vollständig. (Lorenz 1997: 372.)<br />

458<br />

„Ich habe meine Meinung ebenfalls durch Faktenzwang revidiert und eine Entwicklung durchgemacht,<br />

[...].“ („Quellen“, in: VW, 148.)<br />

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