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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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fundene auf ein stabiles Fundament zu stellen [...].“ 587 Zur Beschreibung seiner „Erfindungen“,<br />

die mit Abduktionen gleichgesetzt werden können, wählt Duby eine Metapher, die derjenigen<br />

von Kisch ähnlich ist: „Und er [der Historiker, P.M.] muss sich damit abfinden, seine<br />

Erfindungen, seinen Beitrag an Fantasie und Kreativität innerhalb eines Archipels <strong>zum</strong> Ausdrucks<br />

zu bringen. Und in diesem Archipel gibt es natürlich grosse, vollständig präsente Inseln,<br />

die sich einem aufdrängen; es gibt kleinere, zwischen denen man sich ungezwungen bewegt;<br />

und dann gibt es grosse Leerräume, in denen man sich nach Herzenslust austoben<br />

darf.“ 588 Kisch nennt die bekannten Tatsachen Punkte, die zu durchlaufen sind; Duby nennt<br />

sie grössere und kleinere Inseln, die berücksichtigt werden müssen – in den Zwischenräumen<br />

befindet sich bei beiden das kreative Feld der Abduktion. Ihre zentrale Leistung als Kombination<br />

von Wissen und Einbildungskraft, von Beweisen und Möglichkeiten in der Historiografie<br />

besteht darin, dass mit ihr neue Themen erschlossen werden können. Wo es keine Quellen<br />

mehr gibt oder die Quellen sehr lückenhaft sind und der konventionell agierende Historiker<br />

<strong>zum</strong> Schweigen verurteilt ist, können mittels der Abduktion weitergehende Erklärungen und<br />

Interpretationen angeboten werden.<br />

Die Opposition von Fakten und Fiktionen behindert das Verständnis jener gleitenden, auf den<br />

ersten Blick schwer zu fassenden Mutmassungen, die sich nicht nur in <strong>Meienberg</strong>s historischen<br />

Arbeiten, sondern auch in wichtigen Texten der europäischen Historiografie des Mittelalters<br />

und der Frühen Neuzeit finden. Als besonders irreführend hat sich dabei der Begriff der<br />

Fiktion im Sinne der literarischen, ‚freien‘ Erfindung erwiesen. Aus diesem Grund wurde in<br />

diesem Kapitel das von Peirce entworfene Konzept der Abduktion eingeführt, das den von<br />

Kisch und <strong>Meienberg</strong> verwendeten Begriff der logischen Fantasie sowie die Begriffe der „Invention“<br />

von Davis, der „Mutmassung“ von Ginzburg und der „Erfindung“ von Duby auf einen<br />

gemeinsamen Nenner bringt. Als überraschende Quintessenz dieses Kapitels bleibt die<br />

Erkenntnis, dass die Frage der ‚Erfindung‘ innerhalb von <strong>Meienberg</strong>s Literaturverständnis am<br />

besten über Ansätze und Konzepte der narrativen Geschichtsschreibung erklärt werden kann.<br />

3.3.3.4. Die „Realismus-Debatte“ als Momentaufnahme: Das Literaturverständnis<br />

von <strong>Meienberg</strong> und Otto F. Walter im Vergleich<br />

Dieses Kapitel hat einen anderen Status als die vorherigen. Es dient nicht dazu, ein weiteres<br />

Element von <strong>Meienberg</strong>s Denken zu erarbeiten, sondern stellt eine Ergänzung <strong>zum</strong> Kapitel<br />

3.3.3. in Form einer Exemplifizierung dar: <strong>Meienberg</strong>s Literaturbegriff soll mit demjenigen<br />

von Otto F. Walter verglichen werden, um die bis dahin erarbeiteten Punkte zu verdeutlichen.<br />

Im Herbst 1983 entfachte <strong>Meienberg</strong> mit seiner Polemik gegen Walters Roman Das Staunen<br />

des Schlafwandlers am Ende der Nacht und Koerfers Film Glut in der WOZ einen Streit um<br />

das Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit. Die WOZ lud darauf weitere Autorinnen<br />

und Autoren ein, Stellung zu beziehen und brachte 1984 schliesslich ein „Werkstattgespräch“<br />

587 Duby, Georges; Lardreau, Guy 1982: „Geschichte und Geschichtswissenschaft. Dialoge“, Frankfurt/M..<br />

Meine Hervorhebung.<br />

588 Duby/Lardreau 1982: 41.<br />

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