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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Fokalisierung 672 , die durch die Übernahme von Wortschatz und Tonfall, allgemein: des idiolektalen<br />

und soziolektalen Codes von Wille I und Wille II erreicht wird. Sie erlaubt es dem<br />

Erzähler, die in der Historiografie übliche, distanzierte, auktoriale Erzählhaltung zu verlassen<br />

und gewissermassen näher an die Protagonisten seiner ‚Geschichte‘ heranzurücken. Auf diese<br />

Weise kann das im Clan virulente, autoritäre und reaktionäre Denken ungleich plastischer und<br />

authentischer vorgeführt werden, als es mit einer traditionellen Erzählperspektive möglich<br />

wäre. Durch diese idiolektale und soziolektale Fokalisierung erscheint auch der abrupte Perspektivenwechsel,<br />

den <strong>Meienberg</strong> mit den – an sich unspektakulären – sprachlichen „Hinterlassenschaften“<br />

seines Vaters als erkenntnisfördernder Bruch. Zweitens dient die Technik dazu,<br />

diese Fokalisierung der eigenen Aussagen in den unmarkierten Zitaten zu legitimieren<br />

bzw. zu verifizieren. Denn anders als in einem fiktionalen Text, der prinzipiell keine feste Beziehung<br />

zwischen seiner Darstellung und einer von ihr unabhängigen, objektiv zugänglichen<br />

und verifizierbaren Wirklichkeit unterhält, bedarf <strong>Meienberg</strong>s narrative Fokalisierung, da er ja<br />

Anspruch auf Referentialität erhebt, dieser Legitimierung. Er muss seinen Text so gestalten,<br />

dass seine Darstellung der Welt-Wahrnehmung von Wille I und Wille II nicht nur plausibel ist<br />

– dann würde es sich um Abduktion handeln – sondern auch überprüfbar. Folgendes Beispiel<br />

zeigt, wie diese Legitimierung im Detail funktioniert. <strong>Meienberg</strong> schreibt:<br />

„Es gibt aber immer noch die Möglichkeit, den Bundesrat gar nicht zu orientieren, wenn man die Welschen<br />

züchtigen und etwa ein paar Bataillone nach Lausanne verschieben will, weil man dort irgendwelche<br />

aufständischen Zuckungen erwartet (die nur in der wahnhaften Vorstellungswelt des Generals<br />

existieren). Ulrich Wille ist kein Sadist, er denkt streng pädagogisch. Die Welschen haben ja etwas<br />

Kindliches, die Reife der deutschsprachigen Volksgenossen geht ihnen noch ab, und Kinder wiederum<br />

sind gleich Frauenzimmer.“ (W, 42)<br />

Diese Passage aus dem zweiten Kapitel von Wille und Wahn ist charakteristisch für <strong>Meienberg</strong>s<br />

Erzählkunst: Die Fokalisierung des ersten Satzes bleibt gewissermassen in der Mitte<br />

zwischen Willes Wahrnehmung und der Darstellung des Erzählers stehen, was am ‚neutralen‘<br />

Pronomen „man“ erkennbar ist. Aus Willes Perspektive müsste der Satz anders lauten („Die<br />

Welschen müssen jetzt einmal gezüchtigt werden“); dennoch ist das Vokabular teilweise mit<br />

dessen autoritärer Denkweise kongruent („züchtigen“, „aufständische Zuckungen“). Die Bemerkung<br />

in der Klammer und der nachfolgende Satz werden eindeutig aus der Perspektive des<br />

kommentierenden Erzählers geäussert. Im letzten Satz ändert sich die Fokalisierung erneut<br />

und verschiebt sich nun ganz zur Wahrnehmung des Protagonisten. Würde dieses Urteil über<br />

die „Welschen“ mit Anführungszeichen versehen oder kursiv gedruckt und damit als Fremdzitat<br />

kenntlich gemacht, wäre auch in einer traditionellen historiografischen Darstellung nichts<br />

dagegen einzuwenden. Ohne derartige Markierung tauchen dagegen Fragen auf: Wer spricht<br />

hier eigentlich? Ist dies ‚erfunden‘ oder hat der General das tatsächlich gesagt? Aufgrund der<br />

bisherigen Lektüreerfahrung mit Wille und Wahn kann ausgeschlossen werden, dass es sich<br />

um ein Urteil des Erzählers handelt. Damit ist aber das Problem der Referenzialisierung noch<br />

nicht gelöst. Die Frage – erfunden oder wahr? – bleibt bestehen. Die Antwort liefert <strong>Meienberg</strong><br />

einige Zeilen weiter unten, indem er ein Zitat des Generals einfügt, dass die dargestellte<br />

672 Die Darstellung eines Geschehens kann bekanntlich nicht nur aus unterschiedlicher Distanz, sondern auch<br />

aus verschiedenen Blickwinkeln erfolgen und mehr oder weniger eng an die besondere Wahrnehmung einer<br />

erlebenden Figur gekoppelt sein. Mit dem Begriff der Fokalisierung kann sowohl die Frage nach der wahrnehmenden<br />

wie der sprechenden Instanz differenziert werden. (Martinez/Scheffel 1999: 63.)<br />

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