„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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Kalten Krieg gewöhnt und die unmittelbare Brisanz seiner Aussagen war weitgehend verloren.<br />
Hier nochmals zwei zentrale Passagen seiner recht schonungslosen Schweiz-Analyse:<br />
„Es gibt Leute, die in einer harmlosen Konsumgesellschaft ein bolschewistisches Verschwörernest wittern.<br />
Denn es gibt eine antikommunistische Angstpsychose, Menschen mit Verfolgungswahn, die einen<br />
Kommunisten an jeder Strassenecke und abends unter ihrem Bett oder im Kleiderschrank vermuten, [...].“<br />
„Gegen die Versuchung, Mitbürger wegen ihrer Zugehörigkeit zu irgendeiner weltanschaulichen, konfessionellen,<br />
sprachlichen, rassischen oder politischen Gruppe zu verketzern, ihnen ihre Abweichung vom<br />
landesüblichen Standard vorzuwerfen, ihnen das Wort zu verbieten, ihre Zusammenkünfte auszuhorchen,<br />
sie gesellschaftlich auszustossen, in ihrer Berufsausübung zu schädigen und moralisch abzuschlachten,<br />
kurz, einen Meinungsterror aufzurichten und eine einheitliche Gesinnung vorzuschreiben, sind wir nicht<br />
gefeit.“ 91<br />
Typisch für den staatsnahen ETH-Professor von Salis waren der Verzicht auf Namensnennung,<br />
der Gebrauch des Konjunktivs sowie Wendungen wie „dagegen sind wir nicht gefeit“,<br />
mit welchen er sich im Notfall der Behaftbarkeit hätte entziehen können. Doch seine Statements<br />
wiesen unverhüllt auf die schweizerische Affinität zu einem totalitären „Meinungsterror“<br />
hin und lassen das weiterhin äusserst polarisierte innenpolitische Klima, in welchem<br />
<strong>Meienberg</strong> ein knappes Jahrzehnt später operierte, erahnen. Seine 1975 erstmals publizierte<br />
These, wonach im Zweiten Weltkrieg im Falle von Landesverrat ‚unten‘ füsiliert und ‚oben‘<br />
pensioniert wurde, 92 erfuhr in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) 93 eine exemplarische Rezeption:<br />
Die Reportage wie auch der Film Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. wurden<br />
als klassenkämpferische Agitation verstanden, <strong>Meienberg</strong>s Methode der pointierten Thesenbildung<br />
mit nationalsozialistischer Propaganda in Verbindung gebracht. 94 Der Zürcher Mediävist<br />
Marcel Beck bestritt 1975 im Badener Tagblatt <strong>Meienberg</strong>s Legitimation <strong>zum</strong> kritischen<br />
Sprechen über die Schweiz ganz generell und bezeichnete ihn als überflüssiges Luxusprodukt<br />
einer Wohlstandsgesellschaft, welche in ihrer Saturiertheit nicht mehr merke, wen sie da eigentlich<br />
alles durchfüttere: „Die Retorte <strong>Meienberg</strong>scher Gesellschaftspolitik würde Originale<br />
seiner Art nie hervorbringen. Solche sind nur im behäbigen Kapitalismus möglich, der sich<br />
den Luxus leisten kann, ihnen ein materielles Auskommen zu gewähren.“ 95 Ausgrenzung, Delegitimierung<br />
und „moralisches Abschlachten“ waren die Strategien gegen den provokativen<br />
<strong>Meienberg</strong>, der im Gegensatz zu von Salis die Konfrontation mit dem deutschschweizerischen<br />
ausdrücklich Bürgertum suchte. Dafür wurde er in den 70er Jahren mit dem ganzen rhetorischen<br />
und juristischen Arsenal des helvetischen „Meinungsterrors“ konfrontiert.<br />
91<br />
Beide Zitate: Von Salis 1968: 197-198. Meine Hervorhebungen.<br />
92<br />
<strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: „Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.“, Zürich 1992, 68. Dieser Text wird<br />
fortan mit der Sigle E gekennzeichnet und mit Ernst S. abgekürzt.<br />
93<br />
Die leitmediale Bedeutung der NZZ in der Schweiz war und ist sehr gross. Sie diktierte in den 60er und<br />
70er Jahren die Grundlinien der Geschichtsdebatte und hielt, allerdings mit abnehmendem Erfolg, bis in die<br />
späten 80er Jahre an ihrem konservativen Kurs fest. Die Notwendigkeit einer schweizerischen Vergangenheitsbewältigung<br />
wurde jetzt im Laufe der 90er Jahre nicht mehr rigoros in Abrede gestellt. (Kunz/Morandi<br />
2000: 6.)<br />
94<br />
Kreis Georg: „Geschichtsschreibung mit Film und Klassenkampf. Zur Kontroverse um den ‚Landesverräter<br />
Ernst S.‘“, Neue Zürcher Zeitung, 7.7.1977.<br />
95<br />
Beck, Marcel: „‘Als Schweizer müsste man ihm schon sehr böse sein‘“, Badener Tagblatt, 26.4.1975. Interessant<br />
ist, dass Beck – übrigens einer der wenigen Fachhistoriker, der sich öffentlich zu <strong>Meienberg</strong><br />
äusserte – <strong>Meienberg</strong>s Reportagen als (anarchistische) gesellschaftspolitische Entwürfe ansieht. Siehe hierzu<br />
auch Kap. 3.1. Zu Becks Sprach-Rezeption von Ernst S. siehe Kap. 3.3.2.<br />
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