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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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gungskommission, eines Feldpredigers, des Kompaniekommandanten des Opfers sowie seiner<br />

Kameraden dargestellt. Die Aussagen des Ständerates und des Feldpredigers beziehen sich<br />

dabei auf zwei andere Landesverrats-Fälle, was dazu führt, dass der Artikel eine gewisse allgemeine<br />

Aussagekraft gewinnt. <strong>Meienberg</strong> hat im ersten Landesverrats-Artikel eine Art<br />

‚Funktionsanalyse‘ der beteiligten Personen und Instanzen versucht: Der Richter setzt mit seinem<br />

Urteil den Vernichtungsprozess in Gang, die Begnadigungskommission ist die demokratische<br />

Legitimation des Urteils, der Feldprediger hat den Verurteilten mit seinem Schicksal<br />

auszusöhnen, der Kompaniekommandant dirigiert die Exekution und die Füsiliere führen sie<br />

aus. Mit der Unterteilung des Textes in sechs deutlich unterschiedene Teile, die jeweils einer<br />

Interview-Situation bzw. einer Figurenperspektive entsprechen, kann die narrative Bearbeitung<br />

des hauptsächlich durch Oral History gewonnen ‚Materials‘ als relativ gering gekennzeichnet<br />

werden. Es existiert nur eine einzige Erzählebene, diejenige des Handlungszusammenhangs.<br />

<strong>Meienberg</strong> hat diese Form der Aneinanderreihung von einzelnen Perspektiven auf<br />

denselben ‚Fall‘ bzw. dieselbe Figur wiederholt in seinen Reportagen verwendet, so z.B. in<br />

der biografischen Reportage „Fritzli und das Boxen“ 621 ; es ist ein narratives Verfahren, das<br />

sich geradezu anbietet für die Darstellung von Oral-History-Stoffen und es – <strong>Meienberg</strong>s<br />

epistemologischem Standpunkt entsprechend – dem Erzähler erlaubt, die Form seiner Wirklichkeitsaneignung<br />

unmittelbar offenzulegen und scheinbar eindeutige Fakten in divergierenden<br />

Versionen wiederzugeben.<br />

Der zweite, kürzere TAM-Artikel von 1973 mit dem Untertitel „Der Fahrer Hürny Ernst,<br />

1919-1942“ – es ist die vollständig anonymisierte Geschichte von Ernst S. – ist ganz anders<br />

aufgebaut. Der Text ist viel eindimensionaler, er behandelt nur einen Fall, der im Wesentlichen<br />

aus einer einzigen Perspektive, nämlich derjenigen des psychiatrischen Gutachters, erzählt<br />

wird. Nicht weniger als 80 Prozent des Textes sind direktes Zitat aus dem Gutachten und<br />

aus Dokumenten, die dem Gutachten zugeordnet sind (etwa Briefe von Ernst S.). <strong>Meienberg</strong>s<br />

erzählerische Leistung beschränkt sich auf das Anordnen und Kommentieren der Dokumente<br />

sowie auf das Überleiten zwischen ihnen. Der vollständige Verzicht auf mündliche Quellen<br />

und die monoperspektivische Darstellungsweise sind untypisch für seine Arbeitsweise; möglicherweise<br />

fehlten schlicht die finanziellen Mittel, die Recherchen für den zweiten Teil des<br />

Landesverräter-Artikels mit demselben Aufwand zu gestalten wie für den ersten. In der Buchfassung<br />

von Ernst S. hat er das mit aller Gründlichkeit nachgeholt. In Bezug auf die Erzählstruktur<br />

lassen sich ähnliche Aussagen machen wie für den ersten Teil: Die Story folgt weitgehend<br />

der Chronologie, beginnt mit Geburt und Milieu und endet mit der Exekution. Der<br />

Kommentar fällt spärlich aus; Thesen, die den singulären Fall in einem grösseren Kontext situieren<br />

würden, werden nicht entwickelt.<br />

Den narrativen Kern der Ernst S.-Geschichte, der sich im zweiten TAM-Artikel von 1973 offenbart,<br />

hat <strong>Meienberg</strong> in seinen Reportagen aus der Schweiz (1975) zu einem knapp achtzigseitigen<br />

Prosatext ausgebaut. Das Inhaltsverzeichnis dieses Sammelbandes verrät dabei einiges<br />

über den Rahmen, in welchem Ernst S. ursprünglich konzeptualisiert wurde: Nach zwei<br />

autobiografischen Texten und einer Reportage über eine Wohnwagenkolonie folgen zwei biografische<br />

Reportagen aus der schweizerischen Oberschicht und drei aus der Unterschicht.<br />

621 <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: „Fritzli und das Boxen“, in: ders: Reportagen aus der Schweiz, Zürich 1994, 143-<br />

161.<br />

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