„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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präziseren sprachlichen Erfassung der Oberschicht sind nicht erkennbar, was wohl auch mit<br />
dem Umstand zu tun hat, dass ihm dafür keine geeigneten sprachlichen Quellen zur Verfügung<br />
standen. In Bavaud sind erste, aber vereinzelte Ansätze für eine ikonische Sprachverwendung<br />
bei der Darstellung der gesellschaftlichen Oberschicht erkennbar. So schreibt er etwa<br />
über Frölicher, den schweizerischen Gesandten in Berlin:<br />
„Als begeisterter Jäger habe er auch in den Kriegszeiten immer das Waidwerk gepflegt.“ (B, 42)<br />
Die Wendung „das Waidwerk pflegen“ ist ein Archaismus; 683 mit diesem rhetorischen Stilmittel<br />
reflektiert <strong>Meienberg</strong> die aristokratische Attitüde, auf welche Frölicher zeitlebens Wert<br />
legte. Über das ganze Werk hinweg gesehen bleibt diese Stelle aber ein unbedeutender Einzelfall<br />
– doch stand ja auch hier mit Marcel Bavaud ein Angehöriger des Kleinbürgertums<br />
und nicht der gesellschaftlichen Oberschicht im Zentrum. Erst in Wille und Wahn steht die<br />
Elite wirklich im Mittelpunkt des Textes, was ihm die Erschliessung völlig neuen ‚sprachlichen<br />
Terrains‘ ermöglicht. Es ist wohl diesem Umstand zu verdanken, dass <strong>Meienberg</strong> hier<br />
den Höhepunkt seiner sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten erreicht – die Untersuchung<br />
seiner Rede über den Wille-Clan ist dementsprechend lohnenswert. Welche Sprache verwendet<br />
<strong>Meienberg</strong>, wenn er über die gesellschaftliche Elite schreibt? Hier ein repräsentatives Set<br />
von Beispielen:<br />
„wedelnd karressieren“ (W, 7)<br />
„eine Melodie skizzieren“ (W, 7)<br />
„der Jugend Maienblüte“ (W, 7)<br />
„Ehrensalven durchzittern die Luft“ (W, 9)<br />
„recht sehr ans Herz wachsen“ (W, 11)<br />
„mit fliegenden Händen aufreissen“ (W, 13)<br />
„unter dem Allerhöchsten Gnädigen Schutz Seiner Majestät des Kaisers und auch unter Gottes speziellem<br />
Schutz und Schirm stehen“ (W, 13)<br />
„Lorgnon“ (W, 15)<br />
„ein Mann mit Schneid“ (W, 15)<br />
„nach der Mamsell klingeln“ (W, 16)<br />
„sonst keine Kultur“ (W, 31)<br />
„Hecken knipsen“ (W, 33)<br />
„Verrichtungen obliegen“ (W, 33)<br />
„sich beehren“ (W, 36)<br />
„indigniert sein“ (W, 40)<br />
„Ruhm an den Familiennamen derer von Sprecher heften“ (W, 57)<br />
„ein Aszet sein“ (W, 57)<br />
„Eine Bonbonniere für die Frau Gemahlin kaufen“ (W, 74)<br />
„sich ennuyieren“ (W, 74)<br />
„sich inkommodieren“ (W, 74)<br />
„Eine Einladung ergehen lassen“ (W, 74)<br />
„zur Freude gereichen“ (W, 74)<br />
„Ehrfurcht bei<strong>bringen“</strong> (W, 91)<br />
„quinquillieren“ (W, 91)<br />
„nach dem Begehr fragen“ (W, 91)<br />
„arrondieren“ (W, 91)<br />
Es ist ein ‚elaborierter Code‘, eine gestelzte, prätentiose Sprache voller Archaismen, die er<br />
einsetzt, um das „Leben und Denken“ in der gesellschaftlichen Kammlage des Wille-Clans<br />
683 Als „Archaismus“ wird in der Rhetorik der effektvolle Gebrauch veralteter Ausdrücke mit poetischer, pathetischer<br />
oder ironischer Konnotation bezeichnet. (Lexikon der Sprachwissenschaft 1990.)<br />
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