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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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merksam machen. 211 Eine realistische Funktionsbestimmung würde die Dokumentarliteratur<br />

aber einfach als Mittel des öffentlichen Protestes und Instrument der Meinungsbildung bezeichnen.<br />

212<br />

Die Unmöglichkeit der Zusammenstellung eines klar abgrenzbaren Korpus‘ dokumentarischer<br />

Prosa aufgrund fehlender konsistenter Kriterien wurde bei der Begriffsbestimmung bereits<br />

angetönt. Trotzdem soll hier ein kurzer Überblick über diejenigen – heterogenen – fünf Formen<br />

gegeben werden, die m.E. die Spannweite der Dokumentarliteratur umreissen:<br />

1) Die Protokoll-Literatur kann als konsequenteste Antwort auf die in den 60er Jahren virulenten<br />

Zweifel an auktorialem und fiktionalem Erzählen betrachtet werden. Erika Runge<br />

publizierte 1968 ihre Bottroper Protokolle 213 , eine Sammlung lebensgeschichtlicher Interviews<br />

mit Einwohnern des Ruhr-Ortes Bottrop, der von einer Zechenstillegung erschüttert<br />

wurde. Aus diesen wirklichkeitsverbürgenden Lebensberichten, die auch als „Literatur der<br />

Nichtautoren“ bezeichnet wurden, hatte sich die Autorin scheinbar ganz zurückgezogen,<br />

die Betroffenen schienen selbst zu sprechen. Doch auch hier handelte es sich bloss um die<br />

diskutierte Abbild-Illusion. Runges Texte funktionierten sehr wohl nach einem Plot, der<br />

nach den Veränderungen des politischen Bewusstseins nach der Zechenstillegung suchte –<br />

und entsprechend ‚vorbildliche‘ Haltungen fand. Die Autorin hatte den Ruhrkommunismus<br />

der Weimarer Zeit auf das Jahr 1968 projiziert. 214<br />

2) Die Reportage ist die wichtigste Form der Dokumentarprosa, Günter Wallraff ihr bedeutendster<br />

Vertreter. Das Gewicht seiner Reportagen liegt in ihrer sozialen Funktion: Sie<br />

stellen Öffentlichkeit her über Wirklichkeitsbereiche und Erfahrungen in der westdeutschen<br />

Gesellschaft, die ohne die unkonventionellen Methoden des aufklärerischen Einzelgängers<br />

verborgen, verdrängt oder unterdrückt geblieben wären. 215 Wallraffs Arbeiten 216<br />

haben unmittelbar operativen Impetus; entsprechend ziert er seine Bücher – neben den obligaten<br />

Gerichtsprozessen – mit den Berichten über die konkreten Verbesserungen, die er<br />

z.B. in den Industriebetrieben erzwingen konnte. Der Autor pflegt eine dezidierte Anti-<br />

Ästhetik, 217 lehnt Literatur als Kunst ab: „Von vornherein Kunst machen zu wollen – das<br />

wäre das Allerletzte.“ 218 Der Begriff der Faktografie 219 trifft meiner Meinung nach gut auf<br />

seine Art des Schreibens zu.<br />

211 Die „Schlafmützigkeit“ der Presseleute ist einer der häufigsten Topoi von <strong>Meienberg</strong>s Zeitungskritik.<br />

Gleichzeitig ist aber die Presse das bevorzugte Medium der Dokumentaristen, da ihre Diffusionskraft weit<br />

höher eingeschätzt wird als diejenige von Büchern.<br />

212 Bergham 1980: 277.<br />

213 Runge, Erika: „Bottroper Protokolle. Aufgezeichnet von E.R.“, [4. Aufl.], Frankfurt/M. 1970.<br />

214 Winter 1986a: 399. Ein Beispiel für Protokoll-Literatur aus der Schweiz stellt Laure Wyss‘ „Frauen erzählen<br />

ihr Leben. 14 Protokolle, aufgezeichnet von L.W.“ (Frauenfeld 1976) dar.<br />

215 Schnell 1993: 369-372.<br />

216 Wallraff, Günter: „Die Reportagen“, Köln 1976. (Eine Zusammenstellung seiner wichtigsten Arbeiten)<br />

217 Hierin besteht ein grosser, aber nicht der einzige Unterschied im Selbstverständnis von Wallraff und Mei-<br />

enberg.<br />

218 Görtz, Franz Josef: „Kunst – das wäre das Allerletzte. Ein Gespräch mit Günter Wallraff“, in: Ar-<br />

nold/Reinhardt 1973, 174-184, hier S. 181.<br />

219 Dahlke definiert Faktografie als realitätsverweisendes Berichten von Tatsächlichem, als artifizielle (!) Rekonstruktion<br />

eines historisch-empirischen Sachverhalts unter alleinigem Bezug auf belegbare Realität.<br />

(Dahlke 1986: 4-5.)<br />

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