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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Entwicklungen und Differenzen innerhalb der drei historischen Arbeiten<br />

1) Die drei historischen Arbeiten lassen sich unter dem Aspekt der Textidentität grundsätzlich<br />

in zwei Gruppen aufteilen. Die eine Gruppe bilden Ernst S. sowie Wille und Wahn: Es<br />

handelt sich dabei um Texte mit einer fundamentalen Interventionsstruktur – Texte, die<br />

ihrer Form und ihrem Inhalt (als gestaltete Ganzheit) nach Aktion und Provokation sein<br />

wollen in einem spezifisch gesellschaftspolitischen Kontext. Die andere ‚Gruppe‘ stellt<br />

Bavaud dar, dem dies Interventionsstruktur fehlt. Die folgenden Punkte 2) und 3), in welchen<br />

das Wesen diese Interventionsstruktur nochmals zusammengefasst wird, gelten deshalb<br />

ausschliesslich der ersten Textgruppe.<br />

2) Für die Interventionsstruktur in Ernst S. und Wille und Wahn von entscheidender Bedeutung<br />

ist die narrative Technik der Kontrast-Bildung, wobei Kontraste auf den verschiedensten<br />

Ebenen aufgebaut werden. Beide Texte sind auf der inhaltlichen Ebene zunächst<br />

einmal strukturiert durch den zentralen Gegensatz der strafrechtlichen Konsequenzen bei<br />

Landesverrat für die gesellschaftlich superioren und inferioren Schichten. Um <strong>Meienberg</strong>s<br />

Diktum zu wiederholen: „Oben wird pensioniert, unten wird füsiliert“. Diese Klassenjustiz-These<br />

machte er plausibel, indem er dasselbe Ungleichheitsschema auch in den Bereichen<br />

der Arbeit, der Lebenshaltung, des Essens und der Denkweisen herausschaffte. Kontraste<br />

auf der inhaltlichen Ebene entstehen bei <strong>Meienberg</strong> aber auch durch die Konfrontation<br />

von ‚schönfärberischen‘ Quellentexten – etwa Firmenpublikationen – und den eigenen,<br />

‚wahren‘ Aussagen. Eine zweite, und sehr bedeutende Kontrast-Ebene ist die Sprache.<br />

Es gelingt <strong>Meienberg</strong>, mittels seiner Technik der ikonischen Sprachverwendung für<br />

seine Protagonisten aus der Unterschicht wie aus der Oberschicht, eine eigene, ihrer Ausdrucks-<br />

und Denkweise entsprechende Sprache zu entwickeln. Das verleiht seinen Text<br />

einerseits eine literarische Figurenperspektivierung, andererseits entstehen daraus erneut<br />

harte und augenfällige Gegensätze. Die Erzählstruktur birgt eine dritte, sehr effiziente<br />

Kontrast-Ebene, die sich beispielhaft im literarischen Verfahren der Montage zeigt. Durch<br />

die Gegenüberstellung einander schroff entgegengesetzter Wirklichkeitsbereiche, wie sie<br />

in Wille und Wahn mit der zweimaligen Durchbrechung der militärischen Clan-Story<br />

durch Briefe und Postkarten des Soldaten Alois <strong>Meienberg</strong> realisiert wird, können Ereigniszusammenhänge<br />

aus der Vergangenheit interpretiert und durchschaubar gemacht werden.<br />

Die Kontrastbildung mit dem literarischen Verfahren der Montage ist ein charakteristisches<br />

Merkmal der deutschen Dokumentarliteratur der 60er Jahre, die sich über ähnliche<br />

gesellschaftspolitische Wirkungsabsichten definierte wie <strong>Meienberg</strong>. Die vierte Kontrast-<br />

Ebene ist die ikonografische; sie findet sich einzig in Wille und Wahn. Die Bilder erzählen<br />

zunächst die Geschichte von der Abgeschlossenheit, der germanophilen ‚Imprägnierung‘<br />

und dem aristokratischen Status der Welt des Wille-Clans ein zweites Mal. Diese Schein-<br />

Idylle mit den vier letzten Bildern jäh zerstört: Bilder der Armut und des Elends, die Annemarie<br />

Schwarzenbach, die Gegenfigur in der Wille-Geschichte, während ihrer USA-<br />

Reise gemacht hat. In seiner letzten historischen Arbeit stellt <strong>Meienberg</strong> die gesellschaftlichen<br />

Diskrepanzen und die soziale Ungleichheit, auf die er aufmerksam machen will, auf<br />

nicht weniger als vier verschiedenen, einander ergänzenden Ebenen dar: Darin – in dieser<br />

gestalteten Einheit von Form und Inhalt – gründen sowohl der künstlerische Rang als auch<br />

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