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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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„Herr Klode mit seinem braunen Regenmantel und dem kleidsamen Hütchen stand immer schon morgens<br />

um acht, wenn wir, halb ausgeschlafen, unser Tagwerk in Angriff nahmen, kregel und aufgeräumt<br />

vor dem Hotel, manchmal auch im Hotelfoyer, und begann uns zu betreuen, stracks. Guten Morgen die<br />

Herren, was ham wir heute auf dem Programm?“ (B, 155)<br />

Während in Bavaud die idiomatischen Ausdrücke – dem Sujet entsprechend – verhältnismässig<br />

selten sind und in der Wagenbach-Ausgabe teilweise in eckigen Klammern ins Standarddeutsche<br />

übersetzt werden, knüpft <strong>Meienberg</strong> in Wille und Wahn in der Darstellung von Arbeitern<br />

nahtlos an seine raffinierte Kunstprosa aus Ernst S. an:<br />

„In der Weberei habe es manchmal den ganzen Tag getätscht, und der Lärm sei ungesund gewesen, aber<br />

man habe den Herren Schwarzenbach, dem Dr. Hans und dem Herrn Edwin, und früher dem Herrn Alfred,<br />

ihren Reichtum nicht geneidet, weil, man habe ihn nicht gesehen [...].“ (W, 112)<br />

„Ein anderer wiederum kann über gar nichts klagen, sagt, wenn man arbeitsam gewesen sei, habe man<br />

es gut getroffen auf Bocken, er selbst sei als junger Militärgrind voll in der Gunst der Schwarzenbachs<br />

gestanden, habe vom Chef den wunderbaren Bugatti zur Verfügung gestellt bekommen, um ein Spritzfährtchen<br />

zu machen, und da sei er dann voll Stolz ins Säuliamt gefahren zu seiner Familie, welche Augen<br />

gemacht habe.“ (W, 102)<br />

Hier erreicht diese <strong>Meienberg</strong>sche Kunstsprache mit ihren Helvetismen und ihren subtilen<br />

syntaktischen Verschiebungen des Standarddeutschen <strong>zum</strong> Schweizerdeutschen, diese Verschmelzung<br />

von gesprochener und geschriebener Sprache wohl ihren Höhepunkt. Man glaubt<br />

die mündlichen Aussagen der Zeitzeugen förmlich zu hören – und doch haben sie niemals so<br />

gesprochen, wie <strong>Meienberg</strong> es aufschreibt. An Sätzen wie diesen wird deutlich, weshalb er<br />

stets die Bedeutung der Oral History für den Stil der historischen Darstellung hervorgehoben<br />

hat und wie er auf die Formel „Forscherlibido und Formulierungskraft“ kam (siehe Kap.<br />

3.3.3.1). <strong>Meienberg</strong>, so wird hier deutlich, geht eine beinahe physische Beziehung <strong>zum</strong><br />

‚Sprachmaterial‘ ein, das er während seiner Interviews sammelt, knetet, seziert, einige Dinge<br />

weglässt und neue hinzufügt.<br />

Für die möglichst präzise Darstellung der – insbesondere deutschschweizerischen – gesellschaftlichen<br />

Unterschicht, so lässt sich vorerst resümieren, hat <strong>Meienberg</strong> also eine besondere,<br />

mit idiomatischen Ausdrücken und Wendungen durchsetzte Kunstsprache entwickelt. Sie<br />

tritt, thematisch bedingt, insbesondere in Ernst S. und Wille und Wahn in Erscheinung, ist<br />

aber auch in Bavaud sichtbar. In einem zweiten Analyseschritt soll jetzt <strong>Meienberg</strong>s Sprache<br />

über die gesellschaftliche Oberschicht untersucht werden. In der ersten historischen Arbeit,<br />

die ja eine Milieu-Studie der schweizerischen Unterschicht darstellt, fehlen Angehörige der<br />

Oberschicht als Protagonisten des Textes ganz. Ein einziges Zitat über den Staatsanwalt Eberle<br />

– der nicht zur gesellschaftlichen Elite zu rechnen ist – muss deshalb hier genügen:<br />

„Beim zweiten Telefongespräch, nachdem man seine Referenzen brieflich eingereicht hatte, sagt er:<br />

Ich habe es mir überlegt und bin <strong>zum</strong> Schluss gekommen: Lasst die Toten ruhen. Wenn man trotzdem<br />

wissen möchte, warum S. unbedingt sterben musste, sagt er:<br />

Jetzt werden Sie aber unanständig!<br />

und hängt auf.“ (E, 106-107)<br />

Signifikant ist dieses Zitat trotzdem, denn das kurze Gespräch wurde mit Sicherheit auf<br />

Schweizerdeutsch geführt, und <strong>Meienberg</strong> hätte sich auch hier seiner Kunstsprache bedienen<br />

können. Das tut er jedoch nicht. Beim Reden über die andere, die superiore ‚Klasse‘ verwendet<br />

<strong>Meienberg</strong> in Ernst S. nur das Standarddeutsche. Weitergehende Anstrengungen zu einer<br />

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