„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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den Vorzügen von <strong>Meienberg</strong>s Geschichtsschreibung, auf der Frage, wie ‚Fakten‘ entstehen,<br />
insistiert zu haben. 702<br />
2) Zweites prägnantes Merkmal von <strong>Meienberg</strong>s historischen Arbeiten ist ihr narrativer Modus.<br />
<strong>Meienberg</strong> verbindet dabei ein hohes Bewusstsein um die Erzählung als Fundamentaloperation<br />
der Geschichte mit einer ausgeprägten erzähltechnischen Experimentierfreudigkeit.<br />
Das mikrohistorische Paradigma mit seiner Fokussierung auf individuelle historische<br />
Akteure kann dabei als Basis sowohl für die narrative Ausprägung seiner Geschichtsschreibung<br />
als auch für <strong>Meienberg</strong>s Empathie-Konzept als rhetorische Wirkungsstrategie<br />
betrachtet werden. Biografische Rekonstruktionen erlauben nämlich die Mobilisierung<br />
von Emotionen beim Rezipienten wie keine zweite historiografische Darstellungsform. 703<br />
<strong>Meienberg</strong>s Wille zur Plastizität der Darstellung, zu einem lesbaren, rational wie emotional<br />
ergreifenden Stil schreibt sich in einen grösseren Zusammenhang der europäischen<br />
Historiografie ein: In den 80er Jahren war, wie in Kap. 3.2.4. dargelegt, die sogenannte<br />
„Rückkehr der Erzählung“ eine empirische Beobachtung und ein wichtiger Diskussionsgegenstand<br />
innerhalb der Historiker-Kreise. Trotz diesen erstaunlichen Kongruenzen mit<br />
innovativen Tendenzen der europäischen Geschichtsschreibung hat <strong>Meienberg</strong> den konzeptuellen<br />
Rahmen für seine historischen Arbeiten im Wesentlichen nicht auf einer geschichtstheoretischen,<br />
sondern auf einer journalistischen Basis entwickelt. So gut wie alle<br />
seiner zentralen theoretischen Überlegungen, die mit den Stichworten Objektivitätskritik,<br />
Sichtbarmachung der Wirklichkeitsaneignung, Totalisierung im Kleinen, Ikonismus, Individualität<br />
des Stils und Empathie umrissen werden können, resultieren aus der konkreten<br />
journalistischen Arbeit, besonders aus dem Schreiben von Reportagen. Und genau an diesem<br />
Punkt möchte ich auf die faszinierende Parallele <strong>zum</strong> Konzept des New Journalism<br />
aufmerksam machen: Sämtliche programmatischen Entschlüsse, die <strong>Meienberg</strong> in den<br />
70er Jahren als Konsequenz aus seiner praktischen journalistischen Erfahrung für sein<br />
Schreiben gefasst hat, finden sich – ein Jahrzehnt früher – auch bei den wichtigsten Vertretern<br />
des amerikanischen New Journalism; und auch sie waren Reporter. Zwar waren ihre<br />
Ziele andere – die meisten ‚Neuen Journalisten‘ liebäugelten mit der Belletristik –,<br />
doch ist ihre narrative Praxis mit derjenigen <strong>Meienberg</strong>s in vielen Aspekten vergleichbar.<br />
Als zentrale Frage sowohl des New Journalism als auch von <strong>Meienberg</strong>s historischen Erzählungen<br />
erweist sich nämlich diejenige der Referentialität. 704 Denn die Validität beider<br />
Erzählformen ist stets abhängig von der Verifizierbarkeit der Fakten, da beide einen<br />
grundlegenden Anspruch auf Wahrheit vertreten. Aufgrund der verschiedenen Zielsetzungen<br />
sind die Autoren und Autorinnen des New Journalism in dieser Frage in der Regel be-<br />
702 Die methodischen Affinitäten zwischen dem paradigmatischen ‚Gründungstext‘ der Mikrogeschichte,<br />
Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“ sowie Natalie Zemon Davis‘<br />
„Die wahrhaftige Rückkehr des Martin Guerre“ müssten und könnten hier noch genauer erläutert werden,<br />
doch wird aus Platzgründen darauf verzichtet.<br />
703 Vgl. hierzu: Hähner, Olaf 1999: „Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen<br />
Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert“, Frankfurt/M., 259-260.<br />
704 Spannend ist in diesem Zusammenhang die amerikanische Nonfiction-Debatte, die über die Texte des Literary<br />
Journalism (bzw. New Journalism) geführt wird: Während die ‚postmoderne‘ Theoretikerin Phyllis<br />
Frus ähnlich wie Hayden White in der historiografischen Fakten-Fiktions-Debatte die Grenzen zwischen fiction<br />
und nonfiction aufbrechen möchte, betonen andere, etwa Daniel Lehman, mit Recht auf der fundamentalen<br />
Differenz der beiden Gattungen, die sich an der Frage der Referentialität kristallisiert. (Siehe hierzu: Frus<br />
1994; Lehman 1997.)<br />
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