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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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schreibung und Geschichtsschreibung als Journalismus. Es handelt sich um eine wirkungsorientierte<br />

intellektuelle Praxis, die per Definition grenzüberschreitend ist. 333<br />

Wichtig für <strong>Meienberg</strong>s intellektuelles Selbstverständnis ist auch die von ihm angestrebte und<br />

praktizierte Verbindung von wissenschaftlicher Rationalität und individueller Emotionalität,<br />

die sich ebenfalls als Grenzüberschreitung beschreiben lässt. Er betrachtete die „saubere<br />

Trennung von Gefühl und Verstand“ 334 als erkenntnishemmend und führte als Beispiel dafür<br />

den NZZ-Korrespondenten in Paris an, der während ‚seiner‘ Pariser Jahre von 1967-1971<br />

über Frankreich berichtete, Hans Emmanuel Tütsch. Tütsch, der <strong>Meienberg</strong>s Ansicht nach eine<br />

derartige Trennung von Intellekt und Emotion praktizierte, sei angesichts der Ereignisse<br />

während des Pariser Mai 1968 von einer „tiefen Hilflosigkeit“ ergriffen worden; er habe einfach<br />

gar nichts mehr verstanden. 335 <strong>Meienberg</strong> beanspruchte also, dass seine hermeneutische<br />

Methode der Verbindung von Intellekt und Gefühl, die einen wesentlichen Anteil der charakteristischen<br />

Subjektivität seiner Texte ausmacht, ein besseres Verständnis von Gegenwart und<br />

Vergangenheit ermögliche. Er hat dafür eine eigene Technik der Einfühlung entwickelt, die<br />

ich das ‚Empathie-Konzept‘ nenne (vgl. Kap. 3.3.3.2.). Die Befürwortung einer emotionalen<br />

Annäherung an die Protagonisten seiner Untersuchung ist eine der markantesten Differenzen<br />

zwischen <strong>Meienberg</strong>s Geschichtsschreibung und einem traditionellen Verständnis von Geschichtswissenschaft;<br />

letztere betrachtet die individuellen Gefühle der Forschenden im Allgemeinen<br />

als ‚störende‘ Subjektivität und versucht, von einem Meta-Standpunkt aus über den<br />

Gegenstand der Untersuchung zu sprechen. Dieses Verständnis von Wissenschaftlichkeit, das<br />

auf der – niemals erreichbaren, traditionellerweise jedoch angestrebten – ‚Trennung‘ von Historiker<br />

und Beobachtungsgegenstand basiert, war aber gerade einer jener Punkte, die <strong>Meienberg</strong><br />

an der Geschichtswissenschaft kritisierte: „Diese Wut oder Empörung oder Einfühlung,<br />

die wird von Euch universitären Leuten immer ausgeklammert. Wissenschaftlich ist, was kein<br />

Gefühl hat, was über den Dingen und Menschen steht [...]. Die Wut dürft ihr nicht haben<br />

[...].“ 336<br />

Ein dritter Punkt, der <strong>Meienberg</strong>s intellektuelles Selbstverständnis prägt, ist sein totalisierender<br />

Zugriff auf die Wirklichkeit (vgl. Kap. 3.2.2.). <strong>Meienberg</strong> will in seinen Texten stets die<br />

„ganze Wirklichkeit mit<strong>bringen“</strong>, 337 will nach Sartres Reportage-Definition ein „synthetisches<br />

Gesamtbild“ vermitteln. Die Erkennbarkeit der Wirklichkeit, die in vielen Texten der deutschsprachigen<br />

Literatur in den 80er Jahren nachhaltig in Frage gestellt wurde (vgl. Kap. 2.1.3),<br />

stand bei <strong>Meienberg</strong> nie zur Debatte. 1987 sagte er beispielsweise in einem Interview: „In einigen<br />

Fällen verschaffte mir diese Arbeitsweise [die Oral History, P.M.] einen Durchblick,<br />

wie es von unten bis nach oben funktioniert, also nicht nur eine horizontale, sondern auch vertikale<br />

Sicht der Dinge: mehr wissen, als offiziell gesagt wird, eine Art von Spurensuche.“ 338<br />

Sein Glaube, den vollständigen ‚Durchblick‘ zu besitzen, machte <strong>Meienberg</strong> zu einem ‚Unzeitgemässen‘<br />

in der schweizerischen Literaturszene der 80 Jahre, als er in der „Realismus-<br />

333<br />

Siehe hierzu auch Caluori 2000a: 204. Es soll hier aber nochmals betont werden, dass es sich hier bloss<br />

um die Skizzierung einer globalen Perspektive handelt, die die Diskussion seiner Ansätze, Leistungen und<br />

Probleme in den einzelnen Gattungen keineswegs ersetzt.<br />

334<br />

„4, rue de Thann, Paris 17e“, in: VW, 139.<br />

335<br />

Ebda.<br />

336<br />

„Kurzer Briefwechsel“, in: VT, 257.<br />

337<br />

SG, 136.<br />

338<br />

Bernasconi, Carlo: „Ich will mehr wissen, als offiziell gesagt wird“, Berner Zeitung 10.11.1987.<br />

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