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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Melancholie evoziert einerseits die Stimmung eines schleichenden, unaufhaltsamen Niedergangs.<br />

Andererseits ist sie ein sarkastischer Kommentar auf die reaktionäre Denkweise, die<br />

<strong>Meienberg</strong> im Wille-Clan allerorten konstatiert. Die „Melancholie“, die den Text leitmotivisch<br />

strukturiert, wird dann in zwei ‚Gespenster-Szenen‘ zur prägnanten Allegorie ausgebaut.<br />

Auf Gut Mariafeld lässt der Erzähler 1946, nach dem ‚verlorenen‘ Zweiten Weltkrieg,<br />

ein Klavier von selbst spielen in der Nacht: „[...] und manchmal spielt der Flügel nachts, geisterhaft<br />

und wie von selbst, die Eröffnungsfanfare aus Richard Strauss‘ ‚Also sprach Zarathustra‘,<br />

welche am Grossdeutschen Rundfunk die Siegesmeldungen der Wehrmacht einzuleiten<br />

pflegte, 1939-1945.“ (W, 21, 23) Dieses gespenstische Treiben wiederholt sich dann in schöner<br />

Symmetrie auf der anderen Seite des Zürichsees, auf Gut Bocken, dem zweiten grossen<br />

Herrschaftssitz des Wille-Clans: „[...] und wenn man noch lange die Bäume fixiert und in die<br />

Dunkelheit starrt, taucht vielleicht schemenhaft die Generalin auf in ihren Witwenkleidern,<br />

die nach dem Tod des Generals zwanzig Jahre lang auf Bocken bei ihrer Tochter gelebt hat,<br />

und schlurft mit ihren Krückstock über den Kies, tapp-tapp. Und die anderen Gespenster<br />

nehmen dann vielleicht auch Gestalt an, auf dem Treppenabsatz verfestigen sich langsam die<br />

Konturen von Richard Strauss, [...].“ (W, 92)<br />

Die Szene auf Mariafeld spielt sich in der Nacht ab, diejenige auf Bocken „beim Einnachten“<br />

(W, 91); Geister tauchen auf, Gespenster, Totgeglaubte feiern ihre schemenhafte Auferstehung<br />

aus den Gräbern, die Vergangenheit knistert, die Türen knarren – wie kommt <strong>Meienberg</strong><br />

dazu, der Geschichte des Wille-Clans diese Gespenster-Semantik zu unterlegen, sie als Geschichte<br />

von „Lemuren und Basilisken“ (W, 230) zu begreifen? Eine naheliegende Erklärung<br />

besteht vielleicht darin, dass es ihm in dieser Geschichte nicht gelingt, einen direkten Gegenwartsbezug<br />

herzustellen. Während er in Ernst S. in Anlehnung an Foucaults Thesen (in<br />

„Überwachen und Strafen“ 653 ) eine Kontinuität der disziplinierenden Institutionen in der<br />

Schweiz der Nachkriegszeit feststellen kann und in Bavaud permanent zwischen den Orten<br />

und den Mentalitäten der Vergangenheit und der Gegenwart hin- und herblendet, findet er für<br />

die Wille-Thematik keinen unmittelbaren Anküpfungspunkt an die Gegenwart. Ein einziges<br />

Mal versucht er es doch, und zwar mit der Feststellung, dass der General Wille „nicht nur“ eine<br />

historische Figur sei (W, 67). Ein derartiger Bezug <strong>zum</strong> Heute scheitert aber gründlich, ist<br />

doch der einzige Kontinuitätsbeleg, den er für diese These finden kann, die Tatsache, dass ein<br />

Generalsstabschef der 80er Jahre ein Wille-Bild in seinem Büro hängen habe – und daraus<br />

lässt sich nun wirklich nicht viel ableiten. Die Funktion der Allegorie besteht deshalb darin,<br />

anzuzeigen, dass die Figuren des Wille-Clans unwiderruflich einer vergangenen Epoche angehören.<br />

Da über deren demokratiefernes bis -feindliches Denken und Handeln bis dato aber<br />

noch wenig an die Öffentlichkeit gedrungen war, kann <strong>Meienberg</strong> mit gutem Grund auf der<br />

Ebene des Gespenstischen operieren: Er wirft so (ein Schlag-) Licht in die dunklen Keller der<br />

Geschichte und zerrt die Gespenster nach oben. Wenn man das Gespenst als Bild für innerpsychische<br />

Prozesse wie ‚schlechtes Gewissen‘ oder Verdrängung im Allgemeinen begreift,<br />

entsteht zudem ein stringenter, indirekter Gegenwartsbezug: Die Wahl dieses Erzählmusters,<br />

die Verwendung einer ausgefeilten Semantik des Unheimlichen und Geisterhaften nimmt Bezug<br />

auf die Tatsache jener jahrzehntelangen nationalen Geschichtsverdrängung, welche im<br />

dominanten schweizerischen Geschichtsbild der Nachkriegszeit eingeschrieben war (vgl. Kap.<br />

653 Foucault, Michel: „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“, Frankfurt/M. 1994. (dt. erst-<br />

mals 1976)<br />

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