„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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all dies verbindet ihn mit der Schriftstellerin. Seine Sprache, mit der er über ihre Tätigkeit<br />
schreibt, macht die starken Affinitäten deutlich:<br />
„Und sie versuchte sich zu erinnern, kämpfte um ihr Gedächtnis, als Archäologin ist sie in Persien zu<br />
immer tieferen Schichten vorgestossen – während der Clan die Erinnerung zerstörte.“ (W, 35, m.H.)<br />
„1933/34 fährt Annemarie nach Persien, arbeitet bei archäologischen Ausgrabungen mit, dringt immer<br />
tiefer ein, dokumentiert die Reise fotografisch, erfasst mit liebevoller Präzision diese Kultur und ihre<br />
Menschen.“ (W, 115, m.H.)<br />
Wenn <strong>Meienberg</strong> über sein eigenes Schreiben spricht, dominiert dieselbe Semantik der Tiefe<br />
und des tiefen Bohrens. 701 Auch er hat während des allergrössten Teils seiner Schaffensphase<br />
für das historische Gedächtnis in seinem Land gekämpft. Auf dem inhaltlichen Feld sind ausserdem<br />
die polemische Redeweise und die Kommentare zu erwähnen, in welchen er sich Autor<br />
direkt zu erkennen gibt.<br />
Das letzte Feld, in welchem sich <strong>Meienberg</strong>s Subjektivität offenbart in seinen Texten, ist das<br />
Feld der Methode. Dazu gehört in erster Linie das Empathie-Konzept, mit welchem er seine<br />
eigenen Gefühle, seine Einfühlung, zu einer hermeneutischen Instanz macht. Besonders explizit<br />
macht er diese Methode in Bavaud:<br />
„Wir stehen unter dem grossen Lüster im Ballsaal und versuchen uns aus<strong>zum</strong>alen, wie viel Verständnis<br />
ein Mann wie Frölicher, der Grandseigneur, für Bavaud haben konnte, den Sohn des Pöstlers, den Terroristen.“<br />
(B, 46)<br />
„Wir können ihm die Enttäuschung nachfühlen.“ (B, 69)<br />
„Wir stehen verloren in der katholischen Kirche von Neuchâtel und rekognoszieren. Wieder-Erkennen<br />
(Repérages). Wie haben wir das ausgehalten? Vielleicht war es in der Jugend nicht so schlimm, weil wir<br />
nichts anderes wussten. [...]. Wie hat Maurice das empfunden?“ (B, 90)<br />
Ein zweiter Aspekt von <strong>Meienberg</strong>s Subjektivität auf dem Feld der Methode ist die Sicherheit,<br />
mit der er seine eigenen Erfahrungen und sein persönliches Umfeld als Referenz- und<br />
Vergleichsgrösse für die Lebensumstände seiner Protagonisten heranzieht. Dieser Aspekt ist<br />
in allen drei historischen Arbeiten präsent:<br />
„Er hat in derselben Stadt gelebt wie ich, und doch in einer ganz verschiedenen Welt, auf denselben<br />
paar Quadratkilometern und doch auf einem fernen Archipel. [...] Das St.Gallen meiner Kindheit war<br />
ein friedliches, betuliches, wenn auch grotesk-skurril-burleskes Städtchen, die Klassengegensätze habe<br />
ich nur schwach gespürt [...].“ (E, 55)<br />
„Hans Stürm und ich sind katholischen Ursprungs und mit Internatsvergangenheit behaftet wie Maurice,<br />
sind wir doch beide in der Klosterschule D. eingeweckt gewesen, ich länger als Hans, so dass uns im<br />
Laufe der Erinnerungsarbeit die sauren Brocken der eigenen Vergangenheit wieder aufgestossen sind,<br />
aber auch die süssen Brocken, wir gehörten, und im Herzensgrund gehören wir vielleicht noch immer,<br />
zur katholischen Internationale und sind alle drei, Maurice, Hans und ich, an Fronleichnam hinter der<br />
Monstranz hergetrippelt und haben gesungen dabei O SALUTARIS HOSTIA [...].“ (B, 8)<br />
Beschränkt sich das Autobiografische in Ernst S. auf die zitierten paar Zeilen, so weitet <strong>Meienberg</strong><br />
es in Bavaud zu einer eigenen Erzählebene aus (vgl. Kap. 4.1.1.1). In Wille und Wahn<br />
sind es dann Briefe und Postkarten des Vaters aus dessen „Aktivdienstzeit“, mit welchen er<br />
sein privates Lebensumfeld als Referenzgrösse in seine Texte einbringt.<br />
701 Siehe z.B. SG, 233.<br />
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