„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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wichtig für ihn, sagte er etwa, 350 oder: Er sehe in seiner Arbeit „eine Art ausgleichender Gerechtigkeit“.<br />
351 Der zweite zentrale Begriff ist derjenige der Gleichheit: „Dabei tendiert alles,<br />
was ich mache, immer wieder darauf, das Gleichheitsgebot aus der Französischen Revolution<br />
hervorzuholen, zu sagen, dass die Leute eigentlich gleich sind.“ 352 Gerechtigkeit und Gleichheit:<br />
Das sind klassische Kriterien, mit denen Intellektuelle seit Zola ihre politischen Interventionen<br />
legitimieren; ihre Vagheit ist damit nicht auf einen Mangel an Reflexion zurückzuführen,<br />
sondern liegt in ihrem universalistischen Anspruch selbst begründet. Es sind die Kriterien<br />
einer „Politik der Reinheit“, eines strengen Moralismus, der nach gut und böse fragt und sein<br />
Augenmerk häufig auf konkrete Personen richtet. 353 Die aggressive, bisweilen autoritäre Haltung,<br />
mit welcher <strong>Meienberg</strong> auftrat, wurde von vielen Zeitgenossen nicht goutiert. „Er wähnt<br />
sich im Besitz der alleinigen und alleinseligmachenden Wahrheit, und es kann einem ein Gestus<br />
entgegenschlagen, der an vorkonziliare jesuitische Unerbittlichkeit erinnert“, schrieb beispielsweise<br />
die ihm ansonsten wohlgesinnte Literaturkritikerin Beatrice von Matt 1983. Die<br />
vollständige Inexistenz von Selbstzweifeln sowie <strong>Meienberg</strong>s Neigung, die Privatsphäre seiner<br />
Protagonisten zu missachten, irritierte nicht nur sie; 354 und oftmals missbrauchte <strong>Meienberg</strong><br />
seine Stellung als Intellektueller mit erwiesenermassen grosser medialer Resonanz auch<br />
einfach dazu, private Fehden auszutragen und unliebsame Konkurrenten fertig<strong>zum</strong>achen. 355<br />
Das Engagement des Intellektuellen <strong>Meienberg</strong> umfasste zwei Dimensionen: einerseits seine<br />
chirurgischen ‚Eingriffe‘ am ‚Gesellschaftskörper‘ durch „literarische Präzisionsarbeit“; andererseits,<br />
und davon war bisher noch nicht die Rede, auch die explizite Parteinahme für die<br />
‚Beherrschten‘. „Aber bitte, das heisst nicht, dass ich unparteiisch bin: diese aufgestöberten<br />
Fakten präsentiere ich natürlich in einer persönlichen Optik, und das ist bisher, weil ich kein<br />
Kapital und keine Produktionsmittel habe, gäng die Optik der Lohnabhängigen. Ich leg die<br />
Karten klar auf den Tisch und sag, wo ich stehe.“ 356 Man kann von einer Vordenker- und Repräsentantenrolle<br />
sprechen, die sich <strong>Meienberg</strong> so übertrug, indem er es als seinen Auftrag<br />
ansah, den „Lohnabhängigen“ „Formulierungshilfe“ zu leisten, da sie sich nur ungenügend<br />
selbst ausdrücken könnten. Im Namen der ‚Beherrschten‘, gewissermassen als anderer, nichtgewählter<br />
Volksvertreter, stieg er in den Ring des rhetorischen Kampfes, um gegen die Mächtigen<br />
und die Exponenten der Herrschaft anzutreten. Legitimation für seine Selbstermächtigung<br />
<strong>zum</strong> Vordenker der ‚Büezer‘ war die Tatsache, dass er deren Interessen vertrat. 357 Diese<br />
Form der Solidarisierung mit den Unterprivilegierten und Randständigen der Gesellschaft war<br />
ein Phänomen, das in der schweizerischen Literatur seit den 60er Jahren verbreitet anzutreffen<br />
350<br />
„Durrer/Lukesch 1988: 199.<br />
351<br />
Cantieni, Benita: „Ich verliebe mich ziemlich, und manchmal auch ziemlich oft und manchmal gleichzeitig“,<br />
Annabelle, 13.5.1986.<br />
352<br />
Lerch/Sutter 1984: 68. Dieses Gleichheitsgebot war für <strong>Meienberg</strong> derart fundamental, dass er geradezu<br />
erschüttert war, als er bemerkte, dass es Leute gab, die seiner Meinung einen höheren Stellenwert einräumten<br />
als ihrer eigenen. „Ich habe vergeblich geschrieben, denn ich habe an die Gleichheit geglaubt. Ich glaubte, alle<br />
hätten den gleichen Wert“, sagte er etwa in einem Gespräch mit dem Radio Suisse Romande kurz vor seinem<br />
Tod, als die Rede darauf kam, dass die Leute ihn auf der Strasse als „Prominenten“ bewunderten.<br />
353<br />
Vgl. hierzu die Ausführungen <strong>zum</strong> konzeptuellen Leitbegriff des Intellektuellen in der Einleitung.<br />
354<br />
Von Matt, Beatrice 1983: „Ein umstrittener Streiter. <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: ‚Vorspiegelung wahrer Tatsachen‘“,<br />
in: Schweizer Monatshefte 63, 853-856, hier S. 855-856.<br />
355<br />
Fehr 1999: 407; 488-489.<br />
356 „Kurzer Prozess“.<br />
357 Caluori 2000a: 192-193.<br />
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