„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
derten einen expliziten Gegenwartsbezug ihrer Texte 595 und auch formal lassen sich gewisse<br />
Parallelen feststellen: Bei beiden Autoren spielt die Montage als Darstellungstechnik eine<br />
wichtige Rolle. Im Werkstattgespräch der Realismus-Debatte betont Walter ferner, dass es<br />
beiden um die präzise Darstellung der Klassenlage ihrer Figuren gehe und dass der faktische<br />
„Unterbau“ stimmen müsse, bevor „Überhöhungen“ tolerabel seien. 596 Diese Äusserungen<br />
sind jedoch, wie bereits bemerkt, mit Vorsicht zu geniessen. Es widerspricht Walters Praxis<br />
als Romancier, wenn er behauptet, dass die Fakten immer „stimmen“ müssten, arbeitete er<br />
doch beispielsweise in seinem Roman Die ersten Unruhen 597 mit erfundenen Zeitungsnachrichten,<br />
die als ‚Fakten‘ behandelt werden. Ebenso entspricht die Betonung des Weges vom<br />
„Unterbau“ zur „Überhöhung“, wie ihn <strong>Meienberg</strong> vorsieht, nicht seiner eigenen Praxis.<br />
Bei der Frage nach der Form des Wirklichkeitsbezuges werden die grundlegenden Differenzen<br />
offenbar. <strong>Meienberg</strong> wies auf den empirischen Wirklichkeitsbezug hin, den seine Arbeit<br />
als Journalist und Historiker zwingenderweise voraussetzte: „Das Funktionieren der Macht<br />
kann meiner Ansicht immer nur an ganz präzisen Beispielen gezeigt werden, wo möglichst<br />
detailliert geschildert wird, wo der Ablauf der Machtentfaltung sinnlich fassbar ist und bestimmte<br />
Namen hat, Farben, bestimmte Gefühle hervorruft.“ 598 Walter dagegen grenzte sich<br />
von diesem empirischen Wirklichkeitsbezug entschieden ab: „Ich schreibe keine Romane<br />
über ‚Fälle‘. Das kann die Reportage besser.“ 599 Ausgangspunkt von <strong>Meienberg</strong> – der Geschichtsschreibung<br />
allgemein – sind die „Fälle“, das Faktische. Walters Ausgangspunkt dagegen<br />
sind „ein paar Wörter, ein Bild, eine Fassung, Tonlagen“. 600 Das Faktische nennt Walter<br />
erst an dritter Stelle. Zuerst ist ein Motiv da für einen Roman, dann schöpft er das „private Erfahrungsmaterial“<br />
aus und erst dann kommt die ‚Realität‘ ins Spiel: „Wenn ich beispielsweise<br />
einen Fotografen als Hauptfigur, als Pilotfigur nehme, dann muss ich mich belehren lassen,<br />
wie man fotografiert, in welchen fotografischen Kategorien ein Fotograf denkt. Wenn in einem<br />
Buch von mir eine Stadt dominiert wird von einem Zementwerk, die ganze Region weiss<br />
überpudert ist – die Leute haben entzündete Augen davon –, de muess i go luege, wie Zement<br />
eigentlich hergestellt wird.“ 601 Die Recherche vor Ort ist für Walter eine Möglichkeit. Für das<br />
Ganze seiner Texte bleibt sie von sekundärer Bedeutung. Seine Arbeit als Schriftsteller besteht<br />
grundsätzlich in der „einsamen Arbeit des Erfindens“. 602 Das ist der Punkt, den <strong>Meienberg</strong><br />
nicht akzeptieren kann. „Aber zuerst ist die Figur in den Umrissen festgestanden, dann<br />
hast du sie mit Farben ausgepinselt“ 603 – so lautet der zentrale Vorwurf, den <strong>Meienberg</strong> an<br />
Walter richtet, das ist der Skandal, den er mit seinem normativen, am Wirklichkeitsbezug des<br />
Journalismus und der Historiografie orientierten Literaturbegriff nicht verdauen kann: Dass<br />
zuerst die Erfindung war, die Fiktion als Fiktion. Die einzige Art der ‚Erfindung‘, die für<br />
595 Ich beziehe mich in diesen Aussagen ausschliesslich auf die Romane Die ersten Unruhen, Die Verwilderung<br />
und Das Staunen des Schlafwandlers am Ende der Nacht. Diese Romane handeln u.a. von den „faschistoiden“<br />
Tendenzen des Schweizer Bürgertums, der Wirtschaftskrise der 70er Jahre, der Umweltzerstörung<br />
und der Monopolbildung im Medienbereich.<br />
596 Lerch/Sutter 1984: 60; 84.<br />
597 Walter, Otto F.: „Die ersten Unruhen. Ein Konzept“, Reinbek bei Hamburg 1972.<br />
598<br />
Lerch/Sutter 1984: 62.<br />
599<br />
Ebda.<br />
600<br />
Ebda, 63.<br />
601<br />
Beide Zitate: Ebda, 63.<br />
602<br />
Ebda, 70.<br />
603<br />
Ebda, 71.<br />
111