„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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„Vielleicht ist Hitler auch nicht mit dem Taxi gekommen, sondern vom Chauffeur im Hotel Gotthard<br />
abgeholt worden. Dieser hat ihn eventuell auf den wirklich exquisiten Baumbestand des Rieter-Parks<br />
aufmerksam gemacht, und der naturverbundene Politiker ist, stellen wir uns vor, durch den Park geschlendert<br />
und hat bewundert: den geschlitztblütigen Silberahorn (acer saccharinum), die Blutbuchen<br />
(fagus silvatica atropunicea), den Taubenbaum (davidia involucrata), die Stieleiche (quercus robur), die<br />
Sumpfzypresse (taxodium distichum), die Sommerlinde (tilia platyphylia), den Mädchenhaarbaum<br />
(gingko biloba) und noch viele andere. Die alte Bertha Rieter-Bodmer wohnte ja mitten in dieser Baumsammlung<br />
und hatte sich den einsamen Genuss der Naturschönheiten vorbehalten, der Park war damals<br />
strengstens abgeschirmt gegenüber dem Publikum und lag meist einsam da in seiner saftigen Pracht.“<br />
(W, 80, m.H.)<br />
1923 war Hitler für die Finanzierung der NSDAP entscheidend auf die Spenden von Gönnern<br />
angewiesen. Es war der Zweck seiner Reise nach Zürich, Mittel für seine Partei zu mobilisieren,<br />
was ihm auch gelungen ist. 680 Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel,<br />
dass er dem Kreis seiner Geldgeber seine Reverenz erwies, bevor er sie zur Kasse bat – und in<br />
diesem Sinne kann die Park-Szene gelesen werden. Die Bewunderung der Bäume im Rieterpark<br />
stellt dann eine Zur-Kenntnis-Nahme der Kultur und des gesellschaftlichen Status‘ des<br />
Wille-Clans dar. 681 Dass diese Reverenz-Erweisung gerade über die Besichtigung der Bäume<br />
geschieht, ist aus der intratextuellen Logik, welche die Bäume als zentrales Symbol aufbaut,<br />
nicht nur passend, sondern beinahe zwingend.<br />
Schliesslich muss noch angemerkt werden, dass sich die mutmassenden Stellen in <strong>Meienberg</strong>s<br />
historischen Arbeiten nicht restlos mit den beiden Typen der einfachen und komplexen historiografischen<br />
Abduktion erfassen lassen – es gibt noch so etwas wie eine Grösse daneben. Es<br />
handelt sich um narrative Elemente, die im Grunde abduktiv sein müssten, da der Erzähler<br />
über keine historisch-empirischen Belege verfügt, die aber aufgrund ihres trivialen bzw. parodistischen<br />
Charakters weder der Form noch der Intention nach Abduktionen darstellen. Ich<br />
meine damit die beiden Pseudo-Dialoge:<br />
„Maurice wurde nicht unfreundlich empfangen von seinen Verwandten in Baden-Baden. Wie geht es<br />
dem Vater, was macht die Mutter, wir haben schon lange nichts mehr von Euch gehört! Und was macht<br />
die schöne Schweiz?“ (W, 31)<br />
„Und wie geht es der charmanten Gemahlin, der geb. Rieterin, und ihren Millionen? Ihr geht es millionisch<br />
gut – und den zwei Kinderlein, in der Berliner Luft? Auch prima, die lernen jetzt die Kinderleins<br />
der märkischen Junker kennen, das gibt Beziehungen für später, bis an dein kühles Grab, und kann nicht<br />
schaden.“ (W, 74)<br />
Etwas anders liegt der Fall beim folgenden autonomen inneren Monolog 682 :<br />
„Ein Fremder in Baden-Baden ... dazu noch ein technischer Zeichner ... in der Gegend, wo die Befestigungen<br />
des Westwalls gebaut wurden ... und auf Arbeitssuche ... Leopold Gutterer witterte Unrat.“ (B,<br />
32-33)<br />
680 Gautschi 1994: 268-269.<br />
681 Nebst dieser intratextuellen Plausibilisierung für die Bewunderung der Bäume gibt <strong>Meienberg</strong> auch noch<br />
einen Hinweis für eine extratextuelle: Er nennt Hitler „naturverbunden“ und referiert damit auf einen Wissenbestand<br />
ausserhalb des Textes. Allgemein könnte die Szene auch als Analogie-Schluss gedeutet werden:<br />
Das nationalsozialistische Kader zeichnete sich häufig durch eine schizophrene Doppelgesichtigkeit von Kulturbeflissenheit<br />
und Unmenschlichkeit aus. Hitlers Bewunderung des Baumbestandes wäre dann ein Ausdruck<br />
dieser Kulturbeflissenheit, die im nächsten Moment wieder ins andere umschlagen konnte.<br />
682 Begriff nach Martinez/Scheffel 1999: 62.<br />
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