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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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struktur. Titel und Motto spiegeln die Textstruktur und die Spannung von Textanfang und<br />

restlichem Text exakt.<br />

Die zweite Funktion von <strong>Meienberg</strong>s Motto in Ernst S. betrifft die verwandten Kategorien<br />

drei und vier bei Genette. Wenn nicht das Zitat selbst, sondern der Urheber des Zitates von<br />

Belang ist, und wenn das Motto ein Losungswort für Intellektualität ist, dann ist <strong>Meienberg</strong>s<br />

Kinderreim-Motto ein ironischer Witz, eine freche Verulkung der diskursiven Gewohnheiten<br />

der ‚Höhenkamm-Literatur‘. Nun sind Witz, Ironie und Aggressivität keine textfremden Elemente.<br />

Der Witz und die Ironie des Mottos stehen nicht isoliert in jener unbestimmten Zone<br />

zwischen dem ‚Innen‘ und ‚Aussen‘ des Textes, sondern stellen eine adäquate Vorankündigung<br />

des Tonfalls dar, dessen sich <strong>Meienberg</strong> mit zunehmenden Mass bedient im Verlauf seiner<br />

Geschichte.<br />

In der zweiten historischen Arbeit gestaltet sich der Schwellenbereich zwischen Paratext und<br />

Textanfang wie folgt:<br />

Titel: Es ist kalt in Brandenburg.<br />

Untertitel: Ein Hitler-Attentat.<br />

Motto: „Içi, dans le Brandenbourg, c’est l’hiver perpétuel. / Il pleut, il fait froid. En en Hélvetie?<br />

Hier, in Brandenburg, herrscht ein ewiger Winter. / Es regnet, es ist kalt. Und in der Schweiz?<br />

(aus einem Brief von Maurice Bavaud, 22. August 1940, geschrieben in Berlin-Plötzensee)“<br />

Textanfang: „Das Essen sei saumässig gewesen, ein Saufrass, und er habe sich den Magen dabei verdorben<br />

und später eine Magenoperation gehabt deswegen, und sei der Magen nicht mehr richtig genussfähig<br />

geworden, weil die Internatskost ihn endgültig zerstört habe, der Abscheu vor dem damaligen Essen<br />

sitze ihm noch tief in der Magengrube heute, und werde wohl niemals mehr ganz daraus verschwinden,<br />

das Essen sei recht eigentlich eine Strafe gewesen, man habe sich, auch bei knurrendem Magen,<br />

gefürchtet vor den Mahlzeiten und sich regelrecht zwingen müssen zur Nahrungsaufnahme, und trage er<br />

also ewig in seinen Kutteln herum die Erinnerung an die Missionsschule von Saint-Ilan in der Bretagne,<br />

und sein Magen werde sich bis ans Grab daran erinnern, sagt Louis Bernet in Estavayer-le-Lac, der<br />

Mercerieladenbesitzer, bevor er seine, mit hunderterlei Strickwaren und wollenem Tand bis zur Decke<br />

gefüllte, Mercerieboutique verriegelt und sich empfiehlt und in den oberen Stock geht; <strong>zum</strong> Mittagessen.“<br />

(B,7)<br />

Evident ist, dass der narrative Gestus in Bavaud ein ganz anderer ist als in Ernst S. Ist die<br />

Eingangszone in den Text in Ernst S. von aggressiver Ungeduld und provokativer Frechheit<br />

erfüllt, so empfängt einen im textuellen ‚Vorhof‘ von Bavaud ein versierter, gelassener Erzähler,<br />

der sich hütet, die Geheimnisse seiner Geschichte allzu schnell preiszugeben. Den Titel<br />

könnte man vielleicht als poetisch bezeichnen, er entbehrt jedenfalls jeglichen deskriptiven<br />

Gehaltes. Der Untertitel dagegen ist mit Genettes Terminologie rhematisch, 666 enthält also ein<br />

generisches Lektüresignal – er schlägt vor, diesen Text als Geschichtsschreibung zu betrachten.<br />

Für das Motto können zwei Funktionen eruiert werden. Einerseits verdeutlicht es den Titel<br />

(Genettes erste Funktion des Mottos), nimmt ihm seine Rätselhaftigkeit. Es wird klar, dass<br />

er sich auf das Zitat von Maurice Bavaud bezieht, die Kälte durchaus metereologisch verstanden<br />

werden kann. Andererseits ist es ein enigmatischer Meta-Kommentar für den Text (Genettes<br />

dritte Funktion des Mottos), dessen Bedeutung sich erst nach gut 100 Seiten Lektüre<br />

666 Genette unterscheidet zwei Titel-Typen: Der thematische bezieht sich in einem sehr allgemeinen Sinn auf<br />

den Inhalt, während der rhematische Angaben über die Gattung des Textes enthält. Auch letzterer hat aber<br />

eine deskriptive Funktion. (Genette 1989: 80.)<br />

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