„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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Widersetzt sich ein Text dieser Sprach-Ordnung durch subversiven Sprachgebrauch, kann er<br />
auf diese Denk-Ordnung aufmerksam machen und die Sprache als Objekt ideologischer Operationen<br />
thematisieren. Andererseits gebrauchte <strong>Meienberg</strong> die Klassenkampf-Formel im Sinne<br />
einer ‚passiven‘ Darstellung 503 von Klassengegensätzen in der Sprache: „Eine Frau<br />
Schwarzenbach spricht nicht wie ein Dienstbote. Das sind Welten. Und das sollte man spüren,<br />
dort muss man einen kostbaren Duktus hineinbringen. Früher hat man das, als man den Ausdruck<br />
noch verwenden durfte, Klassenkampf der Sprache genannt.“ 504 Grundlage dieser Kontrast-Technik<br />
ist sein Konzept des ikonischen Sprachgebrauchs: Der gesellschaftliche Status<br />
eines Protagonisten soll sich in der Art und Weise seiner Sprachverwendung reflektieren.<br />
<strong>Meienberg</strong> hat grösste Mühe darauf verwendet, bei jeder Figur „den richtigen Ton“ zu treffen.<br />
505 Die Literaturkritikerin Beatrice von Matt attestierte ihm denn auch ein hohes Sensorium<br />
für Idiolekte und Soziolekte 506 : „Da hat der kritische Denker und historisch geschulte Betrachter<br />
<strong>Meienberg</strong> eine fast animalische Witterung ausgebildet für Wörter und Wortebenen<br />
und für deren gegenseitige Brechung im kontrastierenden Gebrauch. Zwischen Sprachschichten<br />
und deren idiomatischen Vertretern legt er es, meist innerhalb eines einzigen Satzes, gern<br />
auf einen spannungsreichen Streit an.“ 507<br />
Wenn <strong>Meienberg</strong> also bei der Redewiedergabe seiner Protagonisten immer wieder das<br />
schweizerdeutsche Idiom verwendete, so tat er das nicht aus sprachlicher Inkompetenz, wie<br />
ihm manchmal vorgeworfen wurde, sondern aus Gründen der Präzision. „Wenn du Arbeiter<br />
oder Dienstboten selber schreiben lässt, kannst du sicher sein, dass die meisten, sobald der<br />
Akt des Schreibens einsetzt, alles umformen, denn Schreiben, das wurde ihnen in der Schule<br />
‚iibockt‘, das ist etwas Feierliches. [...] Alle sozialen Konflikte werden ausgeklammert und<br />
das ganze Fabrikleben wird rückwirkend idyllisiert [...].“ 508 Die schweizerische Diglossie<br />
bringt es nach <strong>Meienberg</strong> mit sich, dass bei der Übertragung vom Schweizerdeutschen in die<br />
deutsche Standardsprache die Wörter derjenigen, die keine Schreibpraxis haben, eine Art<br />
normierenden Filter durchlaufen, der sich verzerrend auf die Wirklichkeitswiedergabe auswirkt:<br />
„Das ist eine grosse Gefahr für uns Schweizer, dass wir, sobald wir ins Schriftdeutsche<br />
verfallen, uns gsunntiget benehmen, ins sprachliche Sonntagsgewand steigen, [...]“. 509 In diesem<br />
Sinne ist für <strong>Meienberg</strong> eine realistische Selbstdarstellung von Protagonisten aus den sozialen<br />
Unterschichten nur über das schweizerdeutsche Idiom erreichbar. Idiomatische Ausdrücke<br />
haben in seinen Texten deshalb oft eine spezifische ikonische Funktion. An<strong>zum</strong>erken<br />
503 Ich wähle die Bezeichnung „passiv“ hier, um die Differenz zwischen den beiden Verwendungsweisen des<br />
sprachlichen ‚Klassenkampf-Konzeptes‘ zu verdeutlichen. Im ersten Fall ist es <strong>Meienberg</strong>s Sprache selbst,<br />
die eine aktive Subversion betreiben soll im Sinne seines Diktums: „Es genügt halt nicht, linke Dinge zu sagen,<br />
man muss sie auch links sagen.“ („Kurzer Prozess“); im zweiten Fall handelt es sich dagegen um die<br />
„passive“ Reflektierung der Klassengegensätze im Medium der Sprache, und zwar in Form einer adäquaten<br />
Sprache der Protagonisten.<br />
504 Boss/Geel 1998.<br />
505 Lerch/Sutter 1984: 69. Aus dieser Bemühung um den richtigen Ton ist auch sein Imperativ <strong>zum</strong> induktivempirischen<br />
Vorgehen erklärbar. Anders als Otto F. Walter erklärte <strong>Meienberg</strong>, dass er sich nie wagen würde,<br />
die Rede einer Figur ohne jegliche Recherche zu ‚erfinden‘.<br />
506 Der Begriff des Idiolektes bezeichnet den für einen bestimmten Sprecher charakteristischen Sprachgebrauch.<br />
Der Terminus „Soziolekt“ wird zur Bezeichnung einer Sprachvarietät verwendet, die für eine sozial<br />
definierte Gruppe charakteristisch ist. („Idiolekt“ und „Soziolekt“, in: Lexikon der Sprachwissenschaft<br />
1990.)<br />
507 Von Matt 1983: 855.<br />
508 Boss/Geel 1998.<br />
509 „Kurzer Prozess“.<br />
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