„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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Literatur betreffend“ erschien, wurde von Hans Mayer als das gültigste Dokument der damaligen<br />
literaturtheoretischen Debatte bezeichnet, in welcher die ideologischen Affirmationen<br />
und Negationen von ‚1968‘ in exemplarischen Beiträgen zusammengefasst sind. 226 Die dominanten<br />
Themen neben Enzensbergers Beitrag, dies sei am Rande noch bemerkt, sind in dieser<br />
berühmten Kursbuch-Ausgabe Kuba und China, wobei das Dossier zur chinesischen Kulturrevolution<br />
geschmückt ist mit einem ‚unveröffentlichten‘ Gedicht Mao Tse-tungs. Der Aufsatz<br />
Enzensbergers <strong>zum</strong> Thema „Tod der Literatur“ wird ausserdem sekundiert von einer Arbeit<br />
Karl Markus Michels, der unter dem Titel „Ein Kranz für die Literatur“ ebenfalls Begräbnisstimmung<br />
verbreitet in Sachen Literatur. Die „Gemeinplätze“ beginnen folgendermassen:<br />
„Pompes funèbres. Jetzt also hören wir es wieder läuten, das Sterbeglöcklein für die Literatur. Kleine<br />
sorgfältige Blechkränze werden ihr gewunden. Einladungen hagelt es zur Grablegung. [...] Der Leichenzug<br />
hinterlässt eine Staubwolke von Theorien, an denen wenig Neues ist. Die Literaten feiern das<br />
Ende der Literatur.“ 227<br />
Enzensberger mokiert sich über die narzisstische Selbstbeweihräucherung der Literaten, wobei<br />
er aber nicht darauf verzichtet, das „Ende der Literatur“ in einer kunstvollen Allegorie<br />
selbst auch ein bisschen mitzubeschwören. Bald gibt er zu bedenken, dass die Rede vom „Tod<br />
der Literatur“ selbst eine Metapher sei, welche die Literaturentwicklung der Moderne seit<br />
längerem begleite. So entpuppe sich das Leichenbegräbnis vielleicht als eine Veranstaltung,<br />
deren Ende sich womöglich gar nicht absehen lasse – und die „Verblichene in unheimlicher<br />
Frische, immer aufgekratzter und immer wilder aufgeschminkt“, 228 sich selbst dabei einfinde?<br />
Das Achselzucken der Massen angesichts des aufgeregten „Geblöks“ innerhalb der Literatenkreise<br />
ist ihm als mögliche Reaktion darauf jedoch zu wenig. Hinter der funebren Rhetorik<br />
steht nach seinem Dafürhalten eine unter Lesern wie Schreibern verbreitete Stimmung des<br />
Unbehagens und der Ungeduld, die aus einer unerhörten Selbsterkenntnis resultiert: „Beide<br />
haben sie auf einmal begriffen, was doch schon immer so war: dass das Gesetz des Marktes<br />
sich die Literatur ebenso, ja vielleicht noch mehr unterworfen hat als andere Erzeugnisse.“ 229<br />
Dieser Befund, der eine nüchterne Selbstpositionierung innerhalb des kapitalistischen Systems<br />
bedeutet, geht 1968 unweigerlich mit einer Politisierung des eigenen Literaturverständnisses<br />
einher. Denn: Anders als die Hersteller von Margarine operieren die Literaturproduzenten<br />
nicht auf einem trägen Massenmarkt. Sie besitzen, als „Produzenten“ eines Gutes, das,<br />
„von wenigen für wenige“ gemacht wird, mehr Möglichkeiten, den Gesetzen des dämonisierten<br />
Marktes Widerstand zu leisten. Etwa durch die Wahl von Form und Inhalt. „Wenn die intelligentesten<br />
Köpfe zwischen zwanzig und dreissig mehr auf ein Agitationsmodell geben als<br />
auf einen ‚experimentellen Text‘; wenn sie lieber Faktographien benutzen als Schelmenromane<br />
[...]. Das sind freilich gute Zeichen. Aber sie müssen begriffen werden.“ 230<br />
Das politische „Begreifen“ der eigenen Lage – Enzensberger bringt es am Ende seines Essays<br />
auf die berühmte Formel „Alphabetisierung der Alphabetisierer“ – ist eine zentrale Forderung<br />
226 Mayer, Hans 1989: „Die unerwünschte Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1968-1985“, Berlin,<br />
77. Die Zeitschrift „Kursbuch“, 1965 von Hans Magnus Enzensberger gegründet, wurde rasch <strong>zum</strong> Forum<br />
sozial- und kulturrevolutionärer Theoriebildung und Argumentation. (Kneip 1993: 112.)<br />
227 Enzensberger, Hans Magnus 1968: „Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend“, in: Kursbuch 15,<br />
187-197, hier S. 187.<br />
228<br />
Enzensberger 1968: 188.<br />
229<br />
Ebda.<br />
230<br />
Ebda, 189.<br />
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