29.08.2013 Aufrufe

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Boden“ 544 der Wirklichkeit, des Faktischen und der Quellen nicht nur konzeptionell ausarbeitet,<br />

sondern auch für durchaus legitim erklärt. Das ist meiner Ansicht nach eine markante<br />

Verschiebung bei <strong>Meienberg</strong>, die sowohl theoretisch am Begriff der „logischen Fantasie“<br />

festgemacht als auch praktisch in einer diachronen Analyse seiner historischen Arbeiten<br />

nachgewiesen werden kann (vgl. Kap. 4.1.2). Als Beispiel für ein solches „Abheben“ auf der<br />

„Grundlage des Realistisch-Dokumentarischen“ nennt <strong>Meienberg</strong> Jürg Federspiels Roman<br />

„Die Ballade von der Typhoid Mary“ 545 : „Zum Vergleich: Federspiel, oder wie man es machen<br />

kann: In seiner Ballade von der typhoiden Mary steckt, nach Aussagen des Autors, etwa<br />

3% Dokumentarisches, der Rest ist ‚erfunden‘ oder gefunden. Wo? In zeitgenössischen Berichten<br />

über New York und Amerika. Federspiel hat so lange in Bibliotheken gearbeitet, bis er<br />

sich eine genaue Vorstellung vom realen New York machen konnte, wo dann seine Mary völlig<br />

sur-reale Dinge unternimmt, die wirklicher sind als die Wirklichkeit, jedenfalls mögliche<br />

Sachen, die mit logischer Fantasie aus den Umständen entwickelt werden, und so denkt der<br />

Leser denn auch nie: das ist abstrus, sondern: that’s it, genau so werden die Herrschaften von<br />

einer Küchenmamsell vergiftet.“ 546 Mit dem Begriff der logischen Fantasie bezeichnet <strong>Meienberg</strong><br />

also eine Vermutung oder Mutmassung, die mit und aufgrund einer breiten Kenntnis<br />

der Fakten erfolgt und sich nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit und der Plausibilität<br />

richtet. Die ‚Fiktion‘, die er meint – wobei der Begriff der Fiktion hier sehr problematisch ist<br />

– soll so plausibel sein, dass sie zu einer „neuen Wirklichkeit“ wird, die „wirklicher als die<br />

Wirklichkeit“ ist: „Bei Walter & Koerfer habe ich dieses Gefühl (Gewissheit!), dass die Fiktion<br />

eine neue Wirklichkeit ist, nie, weil ihre Fiktionen der Wirklichkeit nicht zuerst aufs Maul<br />

geschaut und sie erst dann überhöht haben, sondern willkürlich ins Blaue hinaus fiktioniert<br />

sind. Es sind mühsame Konstrukte, die jeder Wahrscheinlichkeit entbehren, [...].“ 547 Dass<br />

<strong>Meienberg</strong> hier die Wendung „der Wirklichkeit aufs Maul schauen“ verwendet, um die für<br />

ihn unentbehrliche induktiv-empirische Recherche einzufordern, ist bezeichnend: Das Kriterium<br />

der Plausibilität betrifft bei ihm nicht nur die Ebene der Ereignisse und der Handlung,<br />

sondern insbesondere auch diejenige der Sprache. Die Genauigkeit und Präzision, die er im<br />

Auge hat, bemisst sich wesentlich auch an der Glaubwürdigkeit der Figurenrede.<br />

Den Begriff der logischen Fantasie hat <strong>Meienberg</strong> vermutlich von Egon Erwin Kischs Reportagetheorie<br />

übernommen. Ein Schlüsseltext ist hierzu der kurze Aufsatz „Wesen des Reporters“.<br />

548 Kisch beschreibt die Arbeit des klassischen journalistischen Reporters, der an den<br />

Tatort eines Verbrechens oder den Schauplatz eines Unfalles eilt und versucht, das Vorgefallene<br />

zu rekonstruieren und zu verstehen – die Beschreibung trifft aber geradezu idealtypisch<br />

auch auf die Arbeit der historiografischen Rekonstruktion zu: „Natürlich ist die Tatsache<br />

bloss die Bussole seiner [des Reporters, P.M.] Fahrt, er bedarf aber auch des Fernrohres: der<br />

‚logischen Fantasie‘. Denn niemals bietet sich aus der Autopsie eines Tatortes oder Schauplatzes,<br />

aus den aufgeschnappten Äusserungen der Beteiligten und Zeugen und aus den ihm<br />

dargelegten Vermutungen ein lückenloses Bild der Sachlage. Er muss die Pragmatik des Vor-<br />

544<br />

„Ein Werkstattbesuch“, in.: WSp. 75.<br />

545<br />

Federspiel, Jürg: „Die Ballade von der Typhoid Mary“, Frankfurt/M. 1982.<br />

546<br />

„Ein Werkstattbesuch“, in: WSp, 75.<br />

547<br />

Ebda, 76.<br />

548<br />

Egon Erwin Kisch: „Wesen des Reporters“, in: E.E.K.: Mein Leben für die Zeitung 1906-1925. Journalistische<br />

Texte 1, hg. von Bodo Uhse; Gisela Koch, [Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. VIII], Berlin<br />

etc. 1983, 205-208, hier S. 206.<br />

102

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!