„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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der „Generalin“ ansetzt und dann den Weg der Clan-Geschichte über die brisantesten Figuren<br />
der beiden folgenden Generationen weiterverfolgt. Breite und Vollständigkeit der Darstellung<br />
ist auch diesmal nicht <strong>Meienberg</strong>s Anliegen. Man könnte von Schlaglichtern sprechen, mit<br />
welchen er die dunkelsten Zonen dieser Geschichte einer Familie aus der gesellschaftlichen<br />
Elite der Schweiz für einen Augenblick grell zu beleuchten versucht. Der Schlaglicht-<br />
Charakter von Wille und Wahn wird im Untertitel denn auch angekündigt: „Elemente zur Naturgeschichte<br />
eines Clans“ 643<br />
Es lohnt sich, diesen Untertitel einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Anders als bei den<br />
übrigen literarischen Anspielungen in Buchtitel und Kapitelüberschriften, 644 die vor allem zu<br />
unterhaltenden oder kontrastiven Zwecken eingesetzt werden, stellt er eine weitergehende Referenz<br />
auf das Schaffen Emile Zolas dar. Dass der französische Romancier eine wichtige Bezugsgrösse<br />
für <strong>Meienberg</strong>s Literaturverständnis war, wurde in Kap. 3.3.3.3. bereits erwähnt.<br />
<strong>Meienberg</strong>s Untertitel von Wille und Wahn stellt eine direkte Analogie her <strong>zum</strong> zwanzigbändigen<br />
Romanzyklus Les Rougon-Macquarts, den Zola zwischen 1871 und 1893 publizierte. 645<br />
Dessen Untertitel lautet nämlich: „Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second<br />
Empire“. Der Begriff der „Naturgeschichte“ bezieht sich bei Zolas Familiengeschichte, die zu<br />
einem monumentalen Gemälde der französischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19.<br />
Jahrhunderts wurde, auf die biologisch-physiologische Dimension seiner Erzählung: auf die<br />
Generationenfolge der drei Familien der Rougon, Macquart und Mouret. Mit dem Konzept<br />
der Naturgeschichte verband Zola die Überzeugung, dass sich die Grundgesetze sozialer Prozesse<br />
auf biologische ‚Grundlagen‘ zurückführen lassen. Im Vorwort <strong>zum</strong> ersten Roman des<br />
Rougon-Macquarts-Zyklus‘, La Fortune des Rougons, (1871), beschreibt Zola sein gewaltiges<br />
Vorhaben wie folgt:<br />
„Je veux expliquer comment une famille, un petit groupe d’êtres, se comporte dans une société, en<br />
s’épanouissant pour donner naissance à dix, à vingt individus qui paraissent, au premier coup d’oeil,<br />
profondément dissemblables, mais que l’analyse montre intimement liés les uns aux autres. L’hérédité a<br />
ses lois, comme la pesanteur.<br />
Je tâcherai de trouver et de suivre, en résolvant la double question des tempéraments et des milieux, le<br />
fil qui conduit mathématiquement d’un homme à un autre homme. Et quand je tiendrai tous les fils,<br />
quand j’aurai entre les mains tout un groupe social, je ferai voir ce groupe à l’ouevre comme acteur<br />
d’une époque historique, je le créerai agissant dans la complexité de ses efforts, j’analyserai à la fois la<br />
somme de volonté de chacun de ses membres et la poussée générale de l’ensemble.“ 646<br />
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in welchem Zola die Rougon-Macquarts schrieb, übten<br />
Darwins Evolutions- und Vererbungstheorien einen grossen Einfluss auf das intellektuelle<br />
Schaffen aus. Es war die Zeit der aufkommenden Eugenik, und in ganz Europa wurden über<br />
die Modi und die Bedeutung der Vererbung diskutiert. Bei der praktischen Ausführung trat<br />
bei Zolas Romanzyklus der erbbiologische Erklärungszusammenhang jedoch immer mehr zugunsten<br />
der Milieu-Einflüsse in den Hintergrund, welche in der Einleitung als gleichrangiger<br />
643 Meine Hervorhebung.<br />
644 Der Buchtitel variiert Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Die Überschrift<br />
des zweiten Kapitels imitiert den Titelduktus von Gotthelfs „Bauernspiegel“; diejenige des dritten ist eine<br />
Anspielung auf den zweiten Teil von Johanna Spyris „Heidi“.<br />
645 Kindlers Neues Literatur Lexikon 1992, [Bd. 17], 1073-1075.<br />
646 Zola, Emile: „La Fortune des Rougons“, GF Flammarion, Préface. Meine Hervorhebung.<br />
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