„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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der 68er-Bewegung. Auf die Position des Schriftstellers bezogen meint sie insbesondere, die<br />
Frage nach der Funktion der Literatur innerhalb der Gesellschaft zu stellen. Und zwar nicht<br />
aus der Perspektive der Literaten, die sich nach Enzensberger lange Zeit grotesken Selbsttäuschungen<br />
hingegeben haben über das gesellschaftliche Gewicht ihrer Äusserungen, sondern<br />
aus der Perspektive des staatstragenden Teils der westdeutschen Gesellschaft selbst. Die Antwort<br />
fällt vernichtend aus: Westdeutsche Literatur wurde nach 1945 als „Alibi im Überbau“<br />
benutzt und war dazu bestimmt, diverse Entlastungs- und Kompensationsfunktionen zu übernehmen.<br />
Zum Beispiel: Die Status-Behauptung Deutschlands als „Kulturvolk“, die angesichts<br />
der kollektiven Verbrechen auf dem Spiel stand. Literatur wurde instrumentalisiert zur Erzeugung<br />
kulturellen Prestiges. 231 Im Hinblick auf steigenden Massenkonsum und „politische Regression“<br />
funktionierte Literatur ausserdem als „Delegationsort des guten Gewissens“: Befriedet<br />
im Feuilleton-Reservat, sollte sie ein andernorts inexistentes politisches Leben vortäuschen;<br />
„Opposition liess sich abdrängen auf Feuilletonseiten; Umwälzungen in der Poetik<br />
sollten einstehen für die ausgebliebene Revolutionierung der sozialen Strukturen [...].“ 232<br />
Das Jahr 1968 mit seiner Übertragung der Politik auf die Strasse durch eine neue Generation<br />
musste den Selbsttäuschungen der Literaten nun ein Ende bereiten. Enzensberger sarkastisch:<br />
„Frischgebackene Klassiker, die sich angewöhnt hatten, ihre Stellungnahmen vor dem Fernsehen mit<br />
dem Aplomb von Gesundheits- und Familienministern zu verlesen, fanden sich auf einmal, verblüfft<br />
und beleidigt, einem Publikum gegenübergestellt, das ihre Evangelien mit Lachsalven vergolt. Wenn<br />
das, was da auf seine eigenen Fiktionen hereinfiel, die Literatur gewesen ist, so hat sie allerdings längst<br />
ausgelitten.“ 233<br />
Auf die zukünftige Funktion der Literatur befragt, rekurriert Enzensberger auf surrealistische<br />
Positionen, namentlich auf André Breton, der ihn zur Einsicht bringt, dass es mit einer<br />
„schlechten Unmittelbarkeit“, d.h. mit einer sich als blosses Instrument der Agitation verstehenden<br />
Literatur, auch nicht getan ist. Solche Anbiederungsversuche bei den Massen, resümiert<br />
er, seien bisher samt und sonder fehlgeschlagen. Konsequenz: Ein gewaltsamer Ausbruch<br />
aus dem „Ghetto des Kulturlebens“ sei schlechterdings unmöglich. Was also Not tue,<br />
sei vielmehr der – bei den Surrealisten als „eigensinnig heroisch“ qualifizierte – Versuch, den<br />
Anspruch auf soziale Veränderung mit dem Beharren auf künstlerischer und intellektueller<br />
Souveränität zu verbinden. Als eminentes Hindernis auf diesem Weg erweisen sich dabei die<br />
mit Benjamin konstatierten, ja seit dessen Zeit nochmals beträchtlich gesteigerten digestiven<br />
Kapazitäten der kapitalistischen Verdauungsorgane. Kulturgüter von „beliebiger Sperrigkeit“<br />
würden vom pantophagen Magen des Bürgertums ohne weiteres geschluckt. Revolutionäre<br />
Literatur kann es nach Enzensberger demnach in einer Gesellschaft, wo selbst der Begriff der<br />
Revolution tausendfach von „Werbung, Design und Styling“ in seiner Bedeutung verändert<br />
und verwaschen wird, überhaupt nicht mehr geben. Daraus ergibt sich das Stigma der politischen<br />
Harmlosigkeit, welches <strong>zum</strong> zentralen Merkmal zeitgenössischer Literatur ebenso wie<br />
von deren „Sozialcharakter“ geworden sei. Der „Sozialcharakter dieser Arbeit“, über welchen<br />
sich die Literatur nach Enzensberger auszuweisen hat, kann mit ‚sozialer Relevanz‘ umschrieben<br />
werden. Der zentrale Satz des Essays lautet dann:<br />
231 Vgl. hierzu die analoge, wenn auch anders motivierte Weigerung der „zweiten Generation“ schweizerischer<br />
Schriftsteller, unter der Sigle nationalen Kulturschaffens aufzutreten.<br />
232 Enzensberger 1968: 190.<br />
233 Ebda.<br />
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