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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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nutzt deren „sozioideologischen Horizonte“, 687 um gesellschaftliche Gegensätze kontrastreich<br />

in der Sprache darzustellen und erzielt damit eine genuin literarische, eben polyphone Qualität<br />

für seine Prosa. Gleichzeitig braucht er sich mit diesen Wörtern, etwa dem ‚elaborierten Code‘,<br />

nicht zu „solidarisieren“, wie Bachtin sagt, 688 sondern kann sie nach eigenem Geschmack<br />

akzentuieren: humoristisch, parodistisch, ironisch. Möglich ist dies, weil die Sprache die Fähigkeit<br />

besitzt, zugleich innerhalb und ausserhalb derjenigen Sprache zu sein, die sie abbildet.<br />

689<br />

Die Begriffe des Humors, der Parodie und der Ironie führen direkt <strong>zum</strong> zweiten Punkt dieser<br />

empirischen Analyse von <strong>Meienberg</strong>s Sprache. In einem breiteren Zugriff sollen jetzt einige<br />

dominante sprachliche Charakteristika der drei historischen Arbeiten untersucht werden, um<br />

Antwort zu erhalten auf die Frage nach ihrer rhetorischen und operativen Struktur, kurz: nach<br />

ihrer textuellen Identität im Allgemeinen. Ein erstes auffälliges Kennzeichen, besonders von<br />

Ernst S. und Wille und Wahn, ist die Ironie, also jene Redeweise, die das Gegenteil des eigentlichen<br />

Wortlautes meint und oft mit einem untergründigen, aggressiven Impetus einhergeht.<br />

690 In Ernst S. verwendet <strong>Meienberg</strong> sie etwa dazu, um mittels Pseudo-Kommentaren zur<br />

Quellenlage pointiert Stellung zu beziehen:<br />

„Es ist nicht bekannt, ob die Familie S. die Überraschungen geschätzt hat, die in den Fabriken an der<br />

Sitter auf sie warteten, und ob sie abends noch frisch genug waren, die mächtigen Gesteinsschichten<br />

und den Mischwald zu goutieren.“ (E, 21)<br />

„Es ist nicht bekannt, ob S., nachdem er ‚Samson‘-Hosenträger gebastelt hatte, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit<br />

mit [der Bandweberei-Firma, P.M.] Ganzoni entwickelte. Wenig ist auch bekannt über<br />

die Liebe zur Heimat, die er in der Färberei Sitterthal, und den vaterländischen Geist, den er bei den<br />

‚St.Gallen Konserven‘ spürte, einmal abgesehen vom nationalen Selbstvertrauen, das ihm die Hausiererei<br />

H.A. Opitz einflösste.“ (E, 77)<br />

„Unbekannt ist, ob S. wirklich den Ausdruck ‚Geschlechtsverkehr‘ und nicht das volkstümliche ‚Vögeln‘<br />

brauchte, als er ausgequetscht wurde, und ob er ‚Geschlechtsteil‘ sagte anstatt ‚Schwanz‘.“ (E, 60)<br />

Ist die ironische Redeweise in Bavaud praktisch inexistent, so ist ihre Bedeutung für die rhetorische<br />

Grundstruktur von Wille und Wahn umso bedeutender und wird oft bis <strong>zum</strong> verwandten,<br />

aber stärkeren Sarkasmus gesteigert.<br />

„Der Mann [Wille II, P.M.], welcher am 25. Februar 1929 den Bundesrat um Subventionen bittet, meint<br />

es vermutlich nicht böse. Er ist halt nur dem preussisch-militärischen Ordnungsdenken und später dem<br />

nazistisch-polizeilichen Ordnungswahn verpflichtet, [...].“ (W, 31)<br />

<strong>„Den</strong> Arbeitern jedenfalls wurden während des Landesstreiks auch die Hosen strammgezogen, in Biel<br />

z.B. gab es drei Tote, aber das war nicht bös gemeint.“ (W, 44,)<br />

Sämtliche dieser „meint es nicht böse“-Stellen, die weiter oben dem Familien- und Kindercode<br />

zugeordnet wurden, sind einerseits witzig, andererseits von bitteren Sarkasmus geprägt.<br />

Ebenso die folgenden Passagen:<br />

687<br />

Ebda. Dieser Bachtinsche Begriff der „sozioideologischen Horizonte“ scheint mir ausgezeichnet geeignet<br />

zu sein zur Beschreibung der Art und Weise, wie <strong>Meienberg</strong> mit Wörtern und Wendungen spezifische soziale<br />

Pespektiven konstruiert.<br />

688<br />

Ebda.<br />

689<br />

Ebda, 243-244.<br />

690<br />

„Ironie“, in: Metzler Literatur Lexikon 1990.<br />

151

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