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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Prozess als drittes logisches Schlussverfahren neben der Induktion und der Deduktion. 561 Die<br />

Abduktion ist der erste vermutende Schritt des Schliessens und stellt eine mögliche Erklärung<br />

für ein bestimmtes Phänomen in Form einer Hypothese auf; ihre logischen Konsequenzen, so<br />

Peirce, müssen anschliessend deduktiv ermittelt, ihre praktischen Konsequenzen induktiv<br />

überprüft werden. 562 Zentrale Eigenschaft der Abduktion ist es, dass sie als einzige der drei<br />

logischen Schlussarten in der Lage ist, neue Theorien und neue Erklärungen zu finden und zu<br />

erfinden. 563 Peirce schreibt: „Yet nevertheless, it remains true that there is, after all, nothing<br />

but imagination that can ever supply him [the scientist, P.M.] an inkling of truth.“ 564 Peirce<br />

führt damit die Kategorie der Imagination als heuristische Grösse in den Prozess der wissenschaftlichen<br />

Erkenntnis ein. Nur sie kann den Forschenden einen „Schimmer der Wahrheit“<br />

vermitteln und ist damit der Garant wissenschaftlicher Kreativität. Die logische Struktur der<br />

Abduktion hat Peirce folgendermassen beschrieben:<br />

„The surprising fact, C, is observed;<br />

But if A were true, C would be a matter of course,<br />

Hence, there is reason to suspect that A is true.“ 565<br />

Eine Abduktion schliesst von einem erklärungsbedürftigen Resultat (C) auf eine bisher unbekannte,<br />

imaginierte Regel (A), um einen Fall zu erklären. Illustrieren lässt sich dies mit dem<br />

berühmten „Bohnen-Beispiel“:<br />

Resultat (C) : Diese Bohnen sind weiss.<br />

Imaginierte Regel / Hypothese (A): Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiss.<br />

Fall: Diese Bohnen sind – vermutlich – aus diesem Sack.<br />

Die Leistung der Abduktion besteht in ihrem Erklärungspotenzial. Sie ist eine synthetische,<br />

kreative Art des Schliessens a posteriori. Ihre Validität ist deshalb geringer als diejenige der<br />

Deduktion, die ein apodiktisches Schliessen a priori darstellt. 566 Peirce beharrt dennoch auf<br />

ihrem Charakter als logisches Folgern, obschon sie von logischen Regeln kaum tangiert wird.<br />

Dies führt zu einer paradoxen Doppelbestimmung der Abduktion, ist sie doch gleichzeitig eine<br />

kreative, imaginative, wissenserweiternde Form der Hypothesenbildung und eine logische<br />

Form des Schliessens. Dieses Paradoxon, an der sich die Abduktionsforschung seit längerer<br />

Zeit festgebissen hat, 567 ist für die Belange dieser Arbeit aber kein kniffliges Rätsel, das es zu<br />

lösen gälte, sondern eine interessante Feststellung, da sie in analoger Weise auch auf den Begriff<br />

der logischen Fantasie zutrifft. Logische Fantasie – das ist im Grunde ja ein Oxymoron,<br />

das sind zwei sich widersprechende Begriffe, die genau wie bei der Abduktion gleichzeitig<br />

auf die Notwendigkeit einer Faktenbasis und Faktenkenntnis und auf die entscheidende Rolle<br />

der wissenschaftlichen Imagination hinweisen. Der Forschungsprozess, den Peirce vorsieht,<br />

entspricht exakt derjenigen Arbeitsweise, die <strong>Meienberg</strong> postuliert: „When one’s purpose is to<br />

561<br />

Richter, Ansgar 1995: „Der Begriff der Abduktion bei Charles Sanders Peirce“, Frankfurt/M., 9.<br />

562<br />

Wirth, Uwe 1995: „Abduktion und ihre Anwendungen“, in: Zeitschrift für Semiotik, [Bd. 17, Heft 3-4],<br />

405-424, hier S. 405.<br />

563<br />

„Peirce‘ Theorie der Abduktion“, in: Handbuch der Semiotik.<br />

564<br />

Peirce, Charles Sanders: „Principles of Philosophy“, in: CP 1, hg. von Charles Hartshorne; Paul Weiss,<br />

Cambridge (Mass.) 1965, 46<br />

565 Peirce: CP 5.189.<br />

566 Richter 1995: 30; 69.<br />

567 Wirth 1995: 408.<br />

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