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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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sert sich in der Sprache zweitens, wie im vorigen Kapitel aufgezeigt, über das Empathie-<br />

Konzept als rhetorische Wirkungsstrategie. Im Gebrauch der ironischen, sarkastischen und<br />

parodistischen Redeweise spiegelt sich die subjektive Befindlichkeit, der emotionale Drive<br />

des Autors. Dass <strong>Meienberg</strong> ausschliesslich über Figuren geschrieben hat, die ihn in negativer<br />

oder positiver Weise faszinierten, wurde in Kap. 3.2.1. bereits erwähnt. Vor allem in Ernst S.<br />

ist deshalb, drittens, eine starke Annäherung zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Textes<br />

zu beobachten. Als <strong>Meienberg</strong> über Ernst S. schrieb, hat er auch über sich geschrieben:<br />

nirgendwo ist seine Identifikation mit dem Protagonisten seiner Geschichte so offensichtlich<br />

wie in diesem Werk. Sie äusserst sich zunächst in einer Abduktion, in welcher er vermutet,<br />

dass Ernst S. Journalist und Schriftsteller geworden wäre wie er es ist (E, 52) und erreicht ihren<br />

Höhepunkt in folgender homodiegetischen Passage:<br />

„Ich habe ähnliche Anlagen wie S., aber weil ich im Kleinbürgertum geboren bin, hat man mir nachgesehen,<br />

was man dem S. nicht verzieh. Salut et Fraternité, Ernst!“ (E, 55, m.H.)<br />

Die Projektion des eigenen Lebens in dasjenige des exekutierten Landesverräters scheint an<br />

dieser Stelle so stark gewesen zu sein, dass sich <strong>Meienberg</strong> auf eine Stufe mit ihm stellte und<br />

sich mit dessen stiller Rebellion vollständig identifizierte. Die veränderten wirtschaftlichen<br />

und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen fallen dabei ausser Betracht, doch wären<br />

sie für einen Vergleich entscheidend: Eine Kindheit in den 20er und 30er Jahren ist nicht dasselbe<br />

wie eine Kindheit in den 40er und 50er Jahren. <strong>Meienberg</strong>s Vergleich suggeriert ausserdem,<br />

dass Ernst S. und er ungefähr dieselben Delikte begangen hätten – auch dies ist aber<br />

nachweislich nicht der Fall. Die Stelle lässt sich meiner Meinung nach am besten mit dem<br />

Empathie-Konzept als hermeneutische Methode erklären: Sie stellt eine hypertrophe Form der<br />

Einfühlung dar, bei der die Grenze zwischen dem eigenen Leben und demjenigen der historischen<br />

Figur zunehmend verschwand und ihm das Leben seines Protagonisten <strong>zum</strong> eigenen<br />

„Ersatzleben“ wurde. Diese narzisstische, 700 unbewusste Identifikation mit dem ‚Helden‘<br />

(bzw. dem Opfer) seiner Geschichten ist auch in Bavaud noch ansatzweise spürbar. <strong>Meienberg</strong><br />

sieht sich nämlich zu einer Rechtfertigung gezwungen angesichts der mutigen Tat von<br />

Bavaud:<br />

„Beim Filmen wird nichts riskiert, [...]. Maurice Bavaud hat bei seinen Reisen in Deutschland das Leben<br />

gewagt, das gibt ein Missverhältnis zwischen ihm und uns.“ (B, 10, m.H.)<br />

Die Stelle ist nicht ohne weiteres verständlich. Weshalb sollte zwischen dem Leben seines<br />

Protagonisten und seinem eigenen ein „Missverhältnis“ bestehen? Der Grund für diese seltsame<br />

Bemerkung liegt möglicherweise darin, dass für ihn auch hier die Distanz zwischen seinem<br />

Leben und demjenigen des Attentäters nicht von vornherein eine unhintergehbare Tatsache<br />

war. In Wille und Wahn bleibt <strong>Meienberg</strong> als Autor im Hintergrund; es gibt keine einzige<br />

homodiegetische Stelle. Auch hier findet jedoch – weniger offensichtlich – eine Identifikation<br />

mit einer Figur statt: mit Annemarie Schwarzenbach. Der Beruf, die politische Einstellung,<br />

die Parteinahme für die Unterdrückten, die lebenslange Auseinandersetzung mit der Mutter,<br />

700 Der Begriff des Narzissmus als Interpretationskategorie für <strong>Meienberg</strong>s Werk müsste noch weiter ausgearbeitet<br />

werden. Die vorliegenden Ausführungen können nicht mehr als eine Skizze sein.<br />

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