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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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che sich in der Rede von der geistigen Landesverteidigung und dem ‚Sonderfall Schweiz‘<br />

konzentrierten. 100<br />

Die „faktische Unhinterfragbarkeit der schweizerischen Sonderfallsemantik“ 101 begann erst<br />

mit dem Ende des Kalten Krieges zu bröckeln. Ab Ende der 80er Jahre setzten heftige Auseinandersetzungen<br />

über das politische Selbstverständnis des Landes ein: Abschaffung der Armee<br />

(1989), Fichenaffäre (1989/90), 700 Jahre schweizerische Eidgenossenschaft (1991), EG-<br />

Beitritt (1992) sowie die Debatte um das nationalsozialistische Gold und die nachrichtenlosen<br />

Vermögen (ab 1996). Eine Reihe unterschiedlichster Kontroversen also, die sich zu einer tiefgreifenden<br />

Debatte über das politische System auswuchsen – bei derzeit immer noch offenem<br />

Ausgang, wie an<strong>zum</strong>erken wäre. Die 90er Jahre brachten der Schweiz wie im Zeitraffer alle<br />

wichtigen Auseinandersetzungen, insbesondere auch über die Vergangenheit, die in anderen<br />

Ländern seit den 60er Jahren mehr oder weniger intensiv geführt wurden. 102 Frappant ist dabei,<br />

wie sämtliche während der jahrzehntelangen nationalen Verdrängung unterdrückten historischen<br />

Fragen und Intepretationen nicht nur wieder auftauchten, sondern plötzlich über<br />

grosses Gewicht verfügten. Entsprechend stark waren die Verschiebungen in den Kräfteverhältnissen<br />

auf dem Feld der schweizerischen Historiografie. Das „kulturelle Kapital“ ehemals<br />

misstrauisch beäugter ‚Junghistoriker‘ und ‚Kritiker‘ wie Jakob Tanner schoss rasant in die<br />

Höhe. 103<br />

Die Annahme eines direkten Zusammenhang zwischen dem – im hegemonialen Geschichtsbild<br />

eingeschriebenen – Selbstverständnis einer geschlossenen Abwehrgemeinschaft und der<br />

unverarbeiteten Weltkriegserfahrung, drängt sich dabei auf. Wer das herrschende Bild über<br />

die Schweiz im Zweiten Weltkrieg störte, stellte automatisch auch den Zusammenhalt der nationalen<br />

Abwehrgemeinschaft in Frage. 104 In diesem Licht könnte auch der <strong>Meienberg</strong>/Wille-<br />

Prozess gesehen werden: Der Vorwurf der defätistischen Gesinnung oder gar Handlung an die<br />

Adresse eines Mitglieds der damaligen gesellschaftlichen Elite musste weit mehr als individuelle<br />

Empfindlichkeiten und Persönlichkeitsrechte von Nachkommenden tangiert haben, nämlich<br />

geradewegs vitale Interessen der Nation. Die Selbstverständlichkeit wiederum, mit welcher<br />

die Gebrüder Wille zwei ihnen und dem nationalen Interesse dienende historische Darstellungen<br />

heranzogen, um die schiere Undenkbarkeit einer landesverräterischen Tat ihres Vaters<br />

zu beweisen, ist ein eindrücklicher Beleg dafür, welch nachhaltige Resonanz das dominante<br />

Geschichtsbild als „gesichertes Wissen“ in den dreissig Jahren zwischen 1947 und 1977<br />

entfaltet hatte.<br />

100<br />

König, Mario et al. (Hg.) 1998a: „Dynamisierung und Umbau. Die Schweiz in den 60er und 70er Jahren“,<br />

Zürich, hier: Einleitung, S.12.<br />

101<br />

Romano, Gaetano: „Links oder rechts oder Gemeinschaft oder Gesellschaft? Zur Konfusion politischer<br />

Unterscheidungen öffentlicher Kommunikation“, in: König et al. 1998, 265-276, hier S. 271.<br />

102<br />

Hettling, Manfred: „Einleitung, oder: Anleitung, die Schweiz zu bereisen“, in: ders. et al.1998, 7-20, hier<br />

S. 17.<br />

103<br />

Tanner wurde 1996 in die Unabhängige Expertenkommission „Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ (sogenannte<br />

Bergier-Kommission) berufen.<br />

104 König 1998b: 74-75.<br />

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