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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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schaft, logische Fantasie als vermutenden Schlussmodus einzusetzen, um Lücken in den Quellen<br />

zu schliessen oder ein empirisches Ereignis, abhebend auf dem „harten Boden“, zu einem<br />

exemplarischen werden zu lassen.<br />

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass der Begriff der literarischen Fiktion im Sinne von<br />

„Dichtungsarten, die reale oder nichtreale (‚erfundene‘) Sachverhalte als wirkliche darstellen,<br />

aber prinzipiell keine feste Beziehung zwischen dieser Darstellung und einer von ihr unabhängigen,<br />

objektiv zugänglichen und verifizierbaren Wirklichkeit behaupten“, 555 dass ein solcher<br />

Begriff der Fiktion problematisch und irreführend ist, um jenen Modus der Mutmassung<br />

zu bezeichnen, mit welchem <strong>Meienberg</strong> in den 80er Jahren unter dem Begriff der logischen<br />

Fantasie arbeitet. Das Element der Erfindung im Sinne der genannten Darstellung von Sachverhalten,<br />

die prinzipiell ohne Bezug zu einer verifizierbaren Wirklichkeit auskommt, ist<br />

konstitutiv für den Begriff der Fiktion. 556 Die logische Fantasie, die hier zur Debatte steht, ist<br />

jedoch umgekehrt eine Art der journalistischen und historiografischen Darstellung, die prinzipiell<br />

mit dem Bezug zur empirischen Wirklichkeit operiert. Sie ist falsifizierbar: Widerspricht<br />

sie bekannten Tatsachen, verliert sie ihre Triftigkeit. 557 Aus diesem Grund würde auch eine<br />

Untersuchung der Texte <strong>Meienberg</strong>s mit ontologischen oder pragmatischen Fiktionalitätstheorien<br />

558 meiner Meinung nach wenig bringen. Der explizite Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch<br />

bleibt bei <strong>Meienberg</strong> grundsätzlich auch an den konjekturalen Stellen erhalten;<br />

ihre reduzierte – nicht aufgehobene – Referentialität muss deshalb in adäquater Weise markiert<br />

werden. Was er diesbezüglich in einem Interview 1984 sagte, klingt wie eine Vorwegnahme<br />

seines Texteinstiegs in Wille und Wahn: „Es käme mir dann wie vermessen vor, wenn<br />

ich das noch interpretieren würde [gemeint ist: eine Figurenrede zu erfinden, P.M.]. Oder ich<br />

kennzeichne das klar: ‚Ich stelle mir vor, dass‘ oder so; das wären dann abgehobene Passagen,<br />

die als Vermutungen oder eben als logische Fantasie laufen.“ 559<br />

Der Begriff der Fiktion führt bei der Analyse der konjekturalen Passagen in <strong>Meienberg</strong>s historischen<br />

Arbeiten auf eine falsche Spur. Um die unproduktive, da jegliche dritte Möglichkeit<br />

ausschliessende Opposition Fakten – Fiktionen zu überwinden und auf jenes weite Territorium<br />

zu verweisen, das zwischen diesen beiden Polen liegt, soll deshalb der Begriff der Abduktion<br />

eingeführt werden, der vom amerikanischen Philosophen und Begründer des Pragmatismus<br />

Charles Sanders Peirce (1839-1914) entwickelt wurde. Peirce definiert in seinen „Vorlesungen<br />

über den Pragmatismus“ die Abduktion als „the operation of adopting an explanatory<br />

hypothesis“, 560 als Prozess der Bildung einer erklärenden Hypothese, und konzipiert diesen<br />

555<br />

„Fiktion“, in: Metzler Literatur Lexikon 1990. Meine Hervorhebung.<br />

556<br />

Japp, Uwe 1995: „Die literarische Fiktion“, in: Carola Hilmes; Dietrich Mathy (Hg.): Die Dichter lügen<br />

nicht. Über Erkenntnis, Literatur und Leser, Würzburg, 47-58, hier S. 53.<br />

557<br />

Vgl. hierzu Lützeler, Paul Michael 1997: „Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte: Sondierung,<br />

Analyse, Interpretation“, Berlin, 13.<br />

558<br />

In den Bereich der pragmatischen Fiktionalitätstheorien gehören etwa: Reiser, Peter 1989: „Wirklichkeit<br />

und Fiktion. Erzählstrategien im Grenzbereich“, München; Gabriel, Gottfried 1991: „Zwischen Logik und<br />

Literatur: Erkenntnisformen von Dichtung, Philosopie und Wissenschaft“, Stuttgart; Iser, Wolfgang 1991:<br />

„Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie“, Frankfurt/M..<br />

559<br />

Lerch/Sutter 1984: 66.<br />

560<br />

Peirce, Charles Sanders: „Pragmatism and Pragmaticism“, in: Collected Papers of Charles Sanders Peirce,<br />

Bd. 5, hg. von Charles Hartshorne; Paul Weiss, Cambridge (Mass.) 1965, [Paragraph] 189.<br />

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