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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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im Unterschied zu den schriftlichen Quellen ist den mündlichen aber ihre Nicht-Objektivität<br />

inhärent: Sie sind künstlich hervorgerufen, variabel und parteiisch. Eine Grenze zwischen<br />

Forscher und ‚Quelle‘ lässt sich in der Oral History nicht ziehen. Der ‚Inhalt‘ der Quellen entsteht<br />

nach Massgabe der Fragen, Hypothesen und Ziele des Forschers und hängt stark auch<br />

von zwischenmenschlichen Aspekten ab. 449 Die Befähigung zur Empathie gilt als unerlässliche<br />

Voraussetzung für ergiebige Resultate. 450 Die Ergebnisse der Oral History sind deshalb<br />

stets ein gemeinsames Produkt von Interviewer und Interviewtem. ‚Neutrale‘ Fragen bzw.<br />

‚objektive‘ Feststellung von ‚Tatsachen‘ kann es nicht geben. Wenn in der traditionellen Geschichtsschreibung<br />

der Historiker in der Regel als auktorialer Erzähler auftritt, der über die<br />

Gedanken und Intentionen seiner Figuren verfügt und Kommentare scheinbar säuberlich von<br />

der Darstellung zu trennen vermag, so ist der Historiker, der mit Oral History arbeitet,<br />

zwangsläufig selbst Teil der Erzählung. Er kann nicht mehr unpersönlich auftreten, ohne das<br />

Gespräch zu verzerren. Die naheliegende Verschiebung von der dritten zur ersten Person Singular<br />

ist jedoch nicht nur ein Wechsel der Erzählhaltung, sondern ein Wechsel der gesamten<br />

Erzählweise: „The narrator is now one of the characters, and the telling of the story is part of<br />

the story being told.“ 451 Die Subjektivität der Darstellung, das persönliche Involviertsein des<br />

Autors an der Produktion der Geschichte aufgrund spezifischer Interessen und Fragestellungen,<br />

sein politischer Bias: All diese Aspekte, die auch für die Mikrogeschichte wichtig sind,<br />

stellen eine notwendige und logische Folge der Oral History als Forschungsmethode dar. Sie<br />

gelten im Übrigen, wie erwähnt, für die ganze Geschichtsschreibung. Viele Grundzüge der<br />

Geschichte als Wissenschaft treten in der Oral History offen zutage und es steht zu vermuten,<br />

dass <strong>Meienberg</strong> sein geschärftes Verständnis für diese Fragen der historiografischen Epistemologie<br />

bei der Arbeit mit dieser Methode entwickelt hat.<br />

Ein Charakteristikum der Oral History ist es ferner, dass sie als mündliche Rede nicht nur<br />

verbale, sondern auch paraverbale und nonverbale Botschaften enthält. Mimik, Gestik, Stockungen,<br />

Ironie, Bitterkeit, all dies kann von ebenso grosser Bedeutung sein wie die dabei<br />

ausgesprochenen Worte. Für die Forschungspraxis ergibt sich aus dieser Feststellung ein Dilemma:<br />

Einerseits ist ohne Transkripte keine sinnvolle Bearbeitung des Quellenmaterials<br />

möglich, andererseits bedeutet die Reduktion einer komplexen interaktiven Gesprächssituation<br />

auf das Transkript als Text eine unzulängliche Verkürzung des semantischen Spektrums. 452<br />

<strong>Meienberg</strong> hat diese Problematik in den meisten Fällen mit der radikalen Entscheidung gelöst,<br />

sowohl auf Tonband und Transkript zu verzichten. Er rekonstruierte die Gespräche aus dem<br />

Gedächtnis im Sinne einer freien Nacherzählung und hat entsprechend den Begriff der Oral<br />

History zugunsten der Wendung „mündliche Überlieferung“ in den 80er Jahren als „zu akademisch“<br />

abgelehnt. 453 Diese Praxis muss im Rahmen der Oral History sicherlich als unorthodox<br />

gekennzeichnet werden, doch entbehrt sie nicht einer gewissen Stringenz: Auf diese Weise<br />

konnte er die semantische Mehrdimensionalität des Gespräches <strong>zum</strong>indest im Sinne eines<br />

Gesamteindruckes einfangen.<br />

449 Portelli, Alessandro: „What makes oral history different“, in: Perks/Thomson 1998: 63-74, hier S. 70-71.<br />

450 Howarth 1998: 4.<br />

451 Portelli 1998: 72. Meine Hervorhebung.<br />

452 Ebda, 65. Ebenso: Moos 2000.<br />

453 Boss/Geel 1998.<br />

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