„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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Abduktion mit dem Begriff der „logischen Fantasie“ nun auch theoretisch zu fassen suchte.<br />
Die abduktiven Stellen in Bavaud sind bereits recht zahlreich, mindestens 17 konnten in dieser<br />
Untersuchung ausgemacht werden, so dass die Bedeutung der Abduktion in diesem Text<br />
bereits als erheblich klassifiziert werden kann. 673 Zwischen Bavaud und Wille und Wahn liegt<br />
dann nochmals ein Sprung, quantitativ wie qualitativ: Die Abduktion wird in <strong>Meienberg</strong>s letzter<br />
historischen Arbeit <strong>zum</strong> zentralen narrativen Verfahren, was durch die prominente Platzierung<br />
am Textanfang indiziert wird. Der Historiker-Erzähler <strong>Meienberg</strong> hebt jetzt mit grosser<br />
Souveranität vom harten Boden der Wirklichkeit ab, verfügt über ein vielfältiges Instrumentarium,<br />
diesen teilweise mehrseitigen Abduktionen Plausibilität zu verleihen – und,<br />
nicht zuletzt, er spielt auch mit ihnen. Anstelle einer Auflistung sämtlicher abduktiven Stellen<br />
aus allen drei Werken soll nun versucht werden, eine Art Typologie der verschiedenen Abduktionsformen<br />
zu entwickeln und sie nach ihrem grundsätzlichen Funktionieren zu befragen.<br />
Die häufigste Form der Abduktion in <strong>Meienberg</strong>s historischen Arbeiten ist jener in der Regel<br />
auf einen Satz beschränkte Raum des „vielleicht“, des „vermutlich“ oder des „möglicherweise“,<br />
jener Modus der Mutmassung, der dann notwendig ist, „wenn die vorhandenen Zeugnisse<br />
unzureichend oder widersprüchlich sind“, wie es die Historikerin Natalie Davis ausdrückt. 674<br />
Ich nenne diese Form die einfache historiografische Abduktion. Sie wäre bei einer genaueren<br />
Untersuchung historiografischer Texte wohl häufiger anzutreffen, als manche Historiker<br />
glauben möchten. Bezeichnend ist jedenfalls, dass <strong>Meienberg</strong> diese Form in Ernst S. einsetzt,<br />
ohne eine konkrete Vorstellung von der Abduktion als heuristische Technik zu besitzen. Man<br />
könnte daraus schliessen, dass die einfache historiografische Abduktion, die gewissenhaft<br />
markierte Ergänzung von Wahrem durch Wahrscheinliches organisch aus der Tätigkeit der<br />
Vergangenheitsrekonstruktion erwächst, da die historischen ‚Überreste‘ nie ein ‚vollständiges‘<br />
Bild der Ereignisse oder Zusammenhänge zu liefern vermögen. Die Frage wäre dann<br />
nicht, ob diese Art des Schliessens in der Geschichte ‚erlaubt‘ ist, sondern ob sich die Historiker<br />
der vielfältigen epistemologischen Operationen in ihren Darstellungen bewusst sind. Der<br />
Grundmodus der einfachen historiografischen Abduktion, der auch in Davis‘ „Die wahrhaftige<br />
Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre“ sehr häufig anzutreffen ist, sieht folgendermassen<br />
aus:<br />
„Mit einer entsprechenden Ausbildung versehen, wäre der ausdrucksfähige S. vermutlich Journalist<br />
oder Schriftsteller geworden.“ (E, 52)<br />
„Er muss einsam gewesen sein in Berlin mit seinem Entschluss und der Schmeisser 6.35 im Sack.“<br />
(B, 38)<br />
„Er hat sich vermutlich gedacht, dass aus den Fahrenden, solange sie vagieren, keine anständigen Soldaten<br />
und Arbeiter zu machen seien; [...].“ (W, 31)<br />
Absolut zentral für sämtliche Formen der historiografischen Abduktion ist deren präzise Markierung.<br />
675 In den obigen Zitaten – wie in den meisten Fällen überhaupt – erfolgt diese Markierung<br />
durch die Verwendung von Heckenausdrücken oder Modalverben (von mir unterstrichen<br />
in den Zitaten), welche die reduzierte Verbindlichkeit dieser Aussagen indizieren. Die<br />
673<br />
B, 16, 18, 32-33, 34, 38, 51, 52, 55, 69, 70, 108, 109, 118, 119, 126.<br />
674<br />
Davis 1989: 11.<br />
675<br />
Diese Meinung vertreten auch Davis und Ginzburg. (Ebda, 190.)<br />
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