29.08.2013 Aufrufe

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

cher, dann rasch auf den Abgrund zueilender Sturzbach beschleunigt sich das Tempo dieser<br />

Stelle bis zur finalen Pointe. In Wille und Wahn sind die polemischen Passagen recht zahlreich:<br />

„Sprecher, immerhin noch etwas schärfer in Sachen Kriegstreiberei, hatte von dem auch recht kriegslüsternen<br />

Wille oft zurückgebunden werden müssen, durfte Italien und Frankreich nicht den Krieg erklären,<br />

wie er gern gewollt hätte, war immer bereit, eine strategische Dummheit zu begehen, während Wille<br />

nur einmal das Land in den Krieg verwickeln wollte, im Juli 1915.“ (W, 56)<br />

„Gegen die ‚Bolschewiki‘ im eigenen Land wollte Sprecher noch rabiater vorgehen als Wille, der auch<br />

nicht gerade samtpfötig war, wollte immer möglichst schnell auf revoltierende Arbeiter schiessen lassen;<br />

[...].“ (W, 57)<br />

„Ulrich Wille II, der im Schatten des Generals stand, versuchte ständig, die Deutschhörigkeit seines väterlichen<br />

Oberbefehlshabers zu übertreffen, was nicht einfach gewesen sein kann, und er tat alles in seiner<br />

Macht Stehende, um der schweizerischen Neutralität zu schaden.“ (W, 63)<br />

Das letzte dieser drei Zitate steht am Anfang des dritten Kapitels in Wille und Wahn, in welchem<br />

die Militärkarriere von Wille II geschildert wird – ein unerhörter Kapitelanfang: „tat alles<br />

in seiner Macht Stehende, um der schweizerischen Neutralität zu schaden“. Die Pauschalität<br />

und die kombattante Aggressivität dieser polemischen Aussage verweisen auf die grundlegende<br />

Interventionsstruktur des Textes. Wer eine solche Aussage als Kapitelauftakt wählt, der<br />

will nicht differenzieren, nicht abwägen und auszählen. Dieser Text will Aktion, Provokation<br />

sein. Eine spezifische Wirkung soll erzielt werden. Das ist seine Identität. Dasselbe gilt für<br />

Ernst S. Auch dieses Werk ist geprägt von einer fundamentalen rhetorischen Interventionsstruktur.<br />

„Schnitte ins Fleisch der Geschichte“ – so lautet <strong>Meienberg</strong>s Formel für die von ihm<br />

anvisierte gesellschaftspolitische ‚Operation‘. Nach Massgabe seines intellektuellen Selbstverständnisses<br />

will er die „Gemüter aufwühlen“, politisch eingreifen, einen Aufruhr veranstalten<br />

(vgl. Kap. 3.1.) Das sprachliche Korrelat zu diesem operativen Anspruch an seine Texte<br />

stellen die hier empirisch beobachteten Redeweisen der Ironie, des Sarkasmus, der Parodie<br />

und vor allem der Polemik dar. Darüber hinaus können diese Redeweisen aber auch mit <strong>Meienberg</strong>s<br />

Empathie-Konzept als rhetorische Wirkungsstrategie in Verbindung gebracht werden:<br />

Die Ironie, der Sarkasmus, die Parodie und die Polemik – das sind die persönlichen Gefühle<br />

des Autors beim „Betrachten der Zustände“, gespiegelt im Medium der Sprache. Mit der teils<br />

latenten, teils offenen Aggressivität seiner Sprache beim Reden über die gesellschaftliche Elite<br />

– und nur bei ihr! – , gibt sich <strong>Meienberg</strong> auch in der Sprache selber als Fürsprecher der<br />

Marginalisierten zu erkennen. Gleichzeitig ist es diese Aggressivität, gepaart mit Witz und<br />

Spott, diese mit dem individuellen emotionalen Drive des Autors imprägnierte „Sprachgestalt“,<br />

welche die Leser unterhalten und „aufwühlen“ soll: „Die Empathie des Schreibers<br />

nimmt den Leser mit.“ Der persönliche Zorn des Intellektuellen <strong>Meienberg</strong>, gebündelt als<br />

emotionales Seismogramm der gesellschaftlichen Zustände in einem aggressiven, witzigen,<br />

spottenden sprachlichen Artefakt – er ist es, der auf die Leser überspringen, den Eiterherd am<br />

Gesellschaftskörper herausschneiden, die korrumpierte Wirklichkeit heilen soll.<br />

Der sprachliche Stil ist oft als Waffe eingesetzt worden – so auch von <strong>Meienberg</strong>. 695 All dies<br />

fehlt jedoch in Bavaud vollständig: sehr wenig Ironie, Parodie und Polemik gar keine, und sogar<br />

der Witz, die Wortspiele scheinen ihm in Bavaud nicht so recht zu gelingen. 696<br />

695 Vgl. hierzu: Ginzburg, Carlo 1999: „Holzaugen. Über Nähe und Distanz“, Berlin, 169.<br />

154

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!