„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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Debatte“ dieses Selbstverständnis als normativen Anspruch an die Literatur richtete und Otto<br />
F. Walter kritisierte (vgl. Kap. 3.3.3.4). Andererseits muss jedoch gesagt werden, dass die<br />
Möglichkeit der Erkennbarkeit von Wirklichkeit ein konstitutives Element jeder historiografischen<br />
Epistemologie ist – und diese Sichtweise ist vermutlich besser geeignet, <strong>Meienberg</strong>s<br />
Position zu erklären. Die von <strong>Meienberg</strong> praktizierte, undifferenzierte Gleichsetzung der epistemologischen<br />
Grundlagen von Geschichtsschreibung und Literatur kann letztlich als weiterer<br />
Beleg dafür gelesen werden, dass er in seinen Texten generische Differenzen nicht beachtete<br />
und auch nicht imstande war, solche bei anderen Autoren in Betracht zu ziehen.<br />
<strong>Meienberg</strong>s intellektuelles Selbstverständnis lässt sich ferner über seine Kritik an der schweizerischen<br />
Geschichtswissenschaft erschliessen. Die Kritikpunkte, die er aufzählt, stellen eine<br />
Art negative Repetition des bisher Gesagten dar. Er beurteilte die Geschichtswissenschaft –<br />
wie auch die Literatur – niemals im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten und Ziele, sondern<br />
stets nach Massgabe seiner persönlichen „Ästhetik des kritischen Engagements“. Das war der<br />
Massstab eines Intellektuellen mit klar abgesteckten gesellschaftspolitischen Zielen. <strong>Meienberg</strong><br />
kreidete den Historikern erstens ihre Teilnahme und Teilhabe an einem beschönigenden,<br />
historischer Verdrängung dienenden Geschichtsbild an und stellte eine akute ‚Blindheit‘ gegenüber<br />
den ‚heissen‘ Themen der jüngsten schweizerischen Zeitgeschichte fest. Er konstatierte<br />
„Angst, Un-Neugier, Ignoranz oder Staatsverbundenheit (=Hörigkeit) der Historiker-<br />
Kaste“. Dieselbe ‚Blindheit‘ warf er auch den Journalisten vor, die sich seiner Ansicht nach<br />
durch „Schlafmützigkeit“ auszeichneten. 339 Er bemängelte zweitens die fehlende Bereitschaft<br />
<strong>zum</strong> intellektuellen Streit, d.h. ein Sich-Begnügen mit lauen politischen und intellektuellen<br />
Kompromissen. 340 Das Modell, das ihm vorschwebte, war jene französische Streitlust und<br />
Diskussionskultur in der Öffentlichkeit, die er in Paris kennengelernt hatte. In einem Brief an<br />
Otto F. Walter schrieb er 1980: „Mein Schreiben kommt aus Frankreich. Dort wird hart, das<br />
heisst unbarmherzig-intellektuell geschrieben und also auch polemisiert, [...]. Ich habe nicht<br />
im Sinn, mich auf die schweizerische Gutmütigkeit einzulassen.“ 341 Der letzte Satz muss als<br />
nochmalige Bekräftigung verstanden werden, ein intellektuelles Programm zu verfechten, das<br />
mit den Gebräuchen der schweizerischen Integrationsideologie in den 70er und 80er Jahren<br />
nicht kompatibel war. Fünf Jahre zuvor hatte <strong>Meienberg</strong> mit Ernst S. ein Werk vorgelegt, das<br />
sich durch eine für helvetische Verhältnisse schockierende Radikalität und Aggressivität der<br />
Argumentation auszeichnete. Diesen polemischen Kurs, der mit voller Absicht gegen sämtliche<br />
ungeschriebenen Gesetze der schweizerischen Diskussionskultur verstiess, gedachte er<br />
nun fortzusetzen. Er handelte sich damit einerseits eine weitgehende Diskussionsverweigerung<br />
von seiten der Angegriffenen ein, vermochte sich andererseits aber eine in der damaligen<br />
schweizerischen Innenpolitik wohl einzigartige, auch gefürchtete, Resonanz zu erarbeiten. 342<br />
Eine andere Frage ist, ob <strong>Meienberg</strong> tatsächlich ‚faire‘ intellektuelle Auseinandersetzungen<br />
hätte führen wollen und führen können oder ob er nicht vielmehr Konstellationen bevorzugte,<br />
in welchen er von vornherein die Übermacht besass – wie beispielsweise im literarischen<br />
339 Beide Zitate: „Vorwärts“, in: VT, 245.<br />
340 „Bonsoir, Herr Bonjour“, in: VT, 216.<br />
341 Caluori 2000a: 211.<br />
342 Die Frage ist also weniger, wie Caluori dies sieht, ob es sich bei seinem Stil um ein „angemessenes intellektuelles<br />
Programm“ handelte – denn ganz offensichtlich war die Unangemessenheit des Stils seine erklärtes<br />
und erfolgreiches operatives Credo. (vgl. Caluori 2000a: 230.)<br />
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