„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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trachtet haben wollte; alles in allem hielt er fest: „Seine Theorie von der Akkumulation des<br />
Kapitals und von der Schichtung der Gesellschaft, wobei man das heute international anschauen<br />
müsste, könnte ich unterschreiben.“ 364 <strong>Meienberg</strong> verwendete diese „Arbeitsinstrumente“,<br />
etwa die Begriffe der Klasse und des Klassenkampfes nach eigenem Gutdünken.<br />
„Klasse“ war für ihn weder eine Struktur noch eine Kategorie in einem marxistischen Sinn,<br />
sondern allenfalls etwas, „was sich unter Menschen, in ihren Beziehungen, tatsächlich abspielt“,<br />
wie mit dem englischen Historiker Edward P. Thompson gesagt werden könnte. 365 Die<br />
Feststellung überrascht jedenfalls nicht, dass es bei <strong>Meienberg</strong> keine systematische Reflexion<br />
über die Prämissen des eigenen Denkens gibt. Er ging zwar von einer hierarchischen Stratifizierung<br />
der schweizerischen Gesellschaft aus und beharrte auf den antagonistischen Interessen,<br />
die sie prägten; doch eine nähere Anbindung an fixe ideologische Denkmodelle findet<br />
nicht statt. Dies wurde bereits anlässlich seiner ersten Publikation, den Reportagen aus der<br />
Schweiz festgestellt. Ein Kritiker bezeichnete <strong>Meienberg</strong>s Klassenschema zu Recht als „anarchistisch“,<br />
366 und wenn man die auffälligsten Merkmale seiner Persönlichkeitsstruktur noch<br />
hinzuzieht (vgl. Kap. 4.1.4) könnte man vielleicht von einem anarcho-narzisstischen Weltbild<br />
<strong>Meienberg</strong>s sprechen. Die Inexistenz eines kontinuierlichen Nachdenkens über die eigenen<br />
Denkvoraussetzungen und Geschichtsbilder ist im Übrigen nicht die Ausnahme, sondern weit<br />
eher der Normalfall in der akademischen Geschichtsschreibung. Die Unmöglichkeit, <strong>Meienberg</strong><br />
auf eine bestimmte Ideologie festzulegen, die sein Denken gesteuert hätte, hat jedoch mit<br />
der peinlichen Sorgfalt zu tun, mit welcher er seine intellektuelle Unabhängigkeit bewahrte.<br />
In einem Gespräch mit einem linken Kritiker sagte er: „Es ist nicht meine Aufgabe, in erster<br />
Linie politische Positionen zu vertreten. Ich bin kein Propagandist. Ich bin ein Untersucher.<br />
Meine Ideologie oder meine Ansichten werden laufend neu erarbeitet, [...].“ 367<br />
364<br />
Durrer/Lukesch 1988: 200.<br />
365<br />
Zit. nach Iggers 1993: 69. Thompson war Marxist, verwendete den marxistischen Klassen-Begriff jedoch<br />
nicht im orthodoxen Sinn.<br />
366<br />
Das ganze Zitat lautet folgendermassen: „Aber <strong>Meienberg</strong>s Klassenschema ist dabei nicht von streng<br />
marxistischer Begrifflichkeit, sondern eher von anarchistischem Zuschnitt.“ (Bütler, Hugo: „Schwarzmalen<br />
und Weisswaschen. Aversionen und Identifikation in <strong>Meienberg</strong>s ‚Reportagen‘“, Neue Zürcher Zeitung,<br />
20.5.1975.)<br />
367<br />
Nicht veröffentlichte Tonbandaufnahme, zit. nach Fehr 1999: 390.<br />
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