„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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5. Schlusswort<br />
<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>s erste und wichtigste historische Arbeit, Die Erschiessung des Landesverräters<br />
Ernst S., war ein Paukenschlag, der eine völlig neue Sprache in die deutschsprachige<br />
Schweizer Literatur brachte und die schweizerische Historiografie der 70er Jahre – aus heutiger<br />
Perspektive – revolutionierte. Mit der Landesverräter-Problematik hatte <strong>Meienberg</strong> den<br />
zentralen historischen Gegenstand seines Werkes gefunden, und mit ihm seine Sprache, seine<br />
Methoden sowie den operativen Ansatzpunkt für sein grosses intellektuelles Projekt: Hier<br />
musste er ansetzen, wenn er die festgefahrenen Deutungsmuster über die Schweiz im Zweiten<br />
Weltkrieg aufbrechen – „den <strong>Abszess</strong> <strong>zum</strong> <strong>Platzen</strong> <strong>bringen“</strong> – wollte. Doch die Schweiz, die<br />
er antraf, war alles andere als bereit, über ihre Geschichtsbilder und ihre kollektive Identität<br />
zu diskutieren. In der Mitte der 70er Jahre dominierte vielmehr das repressive Klima eines<br />
sich wieder verschärfenden Kalten Krieges, in welchem die Grenzen des öffentlich Sagbaren<br />
äusserst eng waren und einem Einzelgänger, der sich nur auf sein eigenes Gewissen berief<br />
und im Namen universeller Werte wie Gerechtigkeit und Gleichheit auftrat, wenig Erfolgschancen<br />
beschieden waren. Zwölf Jahre später hat <strong>Meienberg</strong> die Landesverräter-Problematik<br />
als Kern und Kristallisationspunkt seiner Geschichtsschreibung nochmals aufgegriffen. Die<br />
Welt als Wille und Wahn lässt sich als Fortsetzung von Ernst S. verstehen, in der die Perspektive<br />
von ‚unten‘ um die Perspektive von ‚oben‘ auf die schweizerische Klassengesellschaft in<br />
der ersten Jahrhunderthälfte ergänzt wurde. Dennoch ist Wille und Wahn mehr als nur eine<br />
Ergänzung von Ernst S., da <strong>Meienberg</strong> in seiner dritten und letzten historischen Arbeit zahlreiche<br />
neue narrative Techniken – z.B. die Abduktion – entwickelt oder weiterentwickel hat<br />
und als Erzähler und Prosaist auf dem Höhepunkt angelangt war. Zwischen diesen furiosen<br />
historiografischen Essays liegt das Werk Es ist kalt in Brandenburg, das sich in wichtigen<br />
Aspekten von den anderen beiden unterscheidet und doch vielleicht seine transgressive Arbeitsweise<br />
und <strong>Meienberg</strong>s innovative, anarchistische Methodik am besten verkörpert.<br />
Mit dem Aufgreifen des Landesverräter-Stoffes ist <strong>Meienberg</strong> in den 70er Jahren in eine tabuisierte<br />
Zone der helvetischen Geschichtsschreibung vorgestossen und hat damit ein völlig<br />
neues Themenfeld erschlossen und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dasselbe<br />
lässt sich für seine Recherchen über den Wille-Clan sagen: Auch hier ist es ihm gelungen,<br />
eine problematische Zone der schweizerischen Zeitgeschichte auszuleuchten und eine<br />
breite Diskussion über die „Gespenster“ – als verdrängte Aspekte der jüngsten Vergangenheit<br />
– in Gang zu setzen, die längst überfällig war, von der akademischen Geschichtsschreibung<br />
aber nicht geleistet wurde. Gleichzeitig hat <strong>Meienberg</strong> eine Kontroverse eröffnet über die<br />
Produktionsbedingungen und die Kontrollstrukturen von historischen Quellen in der Schweiz,<br />
die bis heute nicht erloschen ist. 711 Dies alles sind entscheidende – aber bisher wenig beachtete<br />
712 – Impulse, die <strong>Meienberg</strong> der helvetischen Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit gegeben<br />
hat und ihn zu einem ihrer wichtigsten Vertreter macht.<br />
Doch <strong>Meienberg</strong>s Leistung als Historiker besteht nicht allein in seinem einzigartigen Zugriff<br />
auf sensible Fragen der Zeitgeschichte und dem Mut, sie ohne Rücksicht auf persönliche und<br />
711<br />
Vgl. Tanner, Jakob 1998: „Zeitgeschichte im Spannungsfeld von Forschungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz“,<br />
Lenzburg.<br />
712<br />
Eine Ausnahme bildet hier der Artikel Jakob Tanners (Tanner 1996).<br />
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